20.
Jahrhundert
19.
Jahrhundert
Spätromantik
Wedekind
Biographie
Werke
Inhaltsangabe
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Frank
Wedekind:
Frühlings Erwachen, 3. Akt, 3.
Szene
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-
- Herr und Frau
Gabor.
-
- Frau
Gabor
- ... Man hatte einen
Sündenbock nötig. Man durfte die überall
lautwerdenden Anschuldigungen nicht auf sich beruhen
lassen. Und nun mein Kind das Unglück gehabt, den
Zöpfen im richtigen Moment in den Schuß zu
laufen, nun soll ich, die eigene Mutter, das Werk seiner
Henker vollenden helfen? Bewahre mich Gott
davor!
-
- Herr Gabor
-
- Ich habe deine
geistvolle Erziehungsmethode vierzehn Jahre schweigend
mit angesehen. Sie widersprach meinen Begriffen. Ich
hatte von jeher der Überzeugung gelebt, ein Kind sei
kein Spielzeug; ein Kind habe Anspruch auf unsern
heiligen Ernst. Aber ich sagte mir, wenn der Geist und
die Grazie des einen die ernsten Grundsätze eines
andern zu ersetzen imstande sind, so mögen sie den
ernsten Grundsätzen vorzuziehen sein. - - Ich mache
dir keinen Vorwurf, Fanny. Aber vertritt mir den Weg
nicht, wenn ich dein und mein Unrecht an dem Jungen
gutzumachen suche!
-
- Frau
Gabor
- Ich vertrete dir den
Weg, solange ein Tropfen warmen Blutes in mir wallt! In
der Korrektionsanstalt ist mein Kind verloren. Eine
Verbrechernatur mag sich in solchen Instituten bessern
lassen. Ich weiß es nicht. Ein gutgearteter Mensch
wird so gewiß zum Verbrecher darin, wie die Pflanze
verkommt, der du Luft und Sonne entziehst. Ich bin mir
keines Unrechtes bewußt. Ich danke heute wie immer
dem Himmel, daß er mir den Weg gezeigt, in meinem
Kinde einen rechtlichen Charakter und eine edle
Denkungsweise zu wecken. Was hat er denn so Schreckliches
getan? Es soll mir nicht einfallen, ihn entschuldigen zu
wollen - daran, daß man ihn aus der Schule gejagt,
trägt er keine Schuld. Und wäre es sein
Verschulden, so hat er es ja gebüßt. Du magst
das alles besser wissen. Du magst theoretisch vollkommen
im Rechte sein. Aber ich kann mir mein einziges Kind
nicht gewaltsam in den Tod jagen lassen!
-
- Herr Gabor
- Das hängt nicht von
uns ab, Fanny. - Das ist ein Risiko, das wir mit unserm
Glück auf uns genommen. Wer zu schwach für den
Marsch ist, bleibt am Wege. Und es ist schließlich
das Schlimmste nicht, wenn das Unausbleibliche zeitig
kommt. Möge uns der Himmel davor behüten!
Unsere Pflicht ist es, den Wankenden zu festigen, solange
die Vernunft Mittel weiß. - Daß man ihn aus
der Schule gejagt, ist nicht seine Schuld. Wenn man ihn
nicht aus der Schule gejagt hätte, es wäre auch
seine Schuld nicht! - Du bist zu leichtherzig. Du
erblickst vorwitzige Tändelei, wo es sich um
Grundschäden des Charakters handelt. Ihr Frauen seid
nicht berufen, über solche Dinge zu urteilen. Wer
das schreiben kann, was Melchior schreibt, der muß
im innersten Kern seines Wesens angefault sein. Das Mark
ist ergriffen. Eine halbwegs gesunde Natur
läßt sich zu so etwas nicht herbei. Wir sind
alle keine Heiligen; jeder von uns irrt vom schnurgeraden
Pfad ab. Seine Schrift hingegen vertritt das Prinzip.
Seine Schrift entspricht keinem zufälligen
gelegentlichen Fehltritt; sie dokumentiert mit
schaudererregender Deutlichkeit den aufrichtig gehegten
Vorsatz, jene natürliche Veranlagung, jenen Hang zum
Unmoralischen, weil es das Unmoralische ist. Seine
Schrift manifestiert jene exzeptionelle geistige
Korruption, die wir Juristen mit dem Ausdruck
"moralischer Irrsinn" bezeichnen. - Ob sich gegen seinen
Zustand etwas ausrichten läßt, vermag ich
nicht zu sagen. Wenn wir uns einen Hoffnungsschimmer
bewahren wollen, und in erster Linie unser fleckenloses
Gewissen als die Eltern des Betreffenden, so ist es Zeit
für uns, mit Entschiedenheit und mit allem Ernste
ans Werk zu gehen. - Laß uns nicht länger
streiten, Fanny! Ich fühle, wie schwer es dir wird.
Ich weiß, daß du ihn vergötterst, weil
er so ganz deinem genialischen Naturell entspricht. Sei
stärker als du! Zeig dich deinem Sohne
gegenüber endlich einmal selbstlos!
-
- Frau Gabor
- Hilf mir Gott, wie
läßt sich dagegen aufkommen! - Man muß
ein Mann sein, um so sprechen zu können! Man
muß ein Mann sein, um sich so vom toten Buchstaben
verblenden lassen zu können! Man muß ein Mann
sein, um so blind das in die Augen Springende nicht zu
sehn! - Ich habe gewissenhaft und besonnen an Melchior
gehandelt vom ersten Tag an, da ich ihn für die
Eindrücke seiner Umgebung empfänglich fand.
Sind wir denn für den Zufall verantwortlich? Dir
kann morgen ein Dachziegel auf den Kopf fallen, und dann
kommt dein Freund - dein Vater, und statt deine Wunde zu
pflegen, setzt er den Fuß auf dich! - Ich lasse
mein Kind nicht vor meinen Augen hinmorden. Dafür
bin ich seine Mutter. - Es ist unfaßbar! Es ist gar
nicht zu glauben. Was schreibt er denn in aller Welt!
Ist's denn nicht der eklatanteste Beweis für seine
Harmlosigkeit, für seine Dummheit, für seine
kindliche Unberührtheit, daß er so etwas
schreiben kann! - Man muß keine Ahnung von
Menschenkenntnis besitzen - man muß ein
vollständig entseelter Bürokrat oder ganz nur
Beschränktheit sein, um hier moralische Korruption
zu wittern! - - Sag, was du willst. Wenn du Melchior in
die Korrektionsanstalt bringst, dann sind wir geschieden!
Und dann laß mich sehen, ob ich nicht irgendwo in
der Welt Hilfe und Mittel finde, mein Kind seinem
Untergang zu entreißen.
-
- Herr Gabor
- Du wirst dich drein
schicken müssen - wenn nicht heute, dann morgen.
Leicht wird es keinem, mit dem Unglück zu
diskontieren. Ich werde dir zur Seite stehen und, wenn
dein Mut zu erliegen droht, keine Mühe und kein
Opfer scheuen, dir das Herz zu entlasten. Ich sehe die
Zukunft so grau, so wolkig - es fehlte nur noch,
daß auch du mir noch verlorengingst.
-
- Frau Gabor
- Ich sehe ihn nicht
wieder; ich sehe ihn nicht wieder. Er erträgt das
Gemeine nicht. Er findet sich nicht ab mit dem Schmutz.
Er zerbricht den Zwang; das entsetzlichste Beispiel
schwebt ihm vor Augen! - Und sehe ich ihn wieder - Gott,
Gott, dieses frühlingsfrohe Herz - sein helles
Lachen - alles, alles - seine kindliche Entschlossenheit,
mutig zu kämpfen für Gut und Recht - o dieser
Morgenhimmel, wie ich ihn licht und rein in seiner Seele
gehegt als mein höchstes Gut... Halte dich an mich,
wenn das Unrecht um Sühne schreit! Halte dich an
mich! Verfahre mit mir, wie du willst! Ich trage die
Schuld. - Aber laß deine fürchterliche Hand
von dem Kind weg.
-
- Herr Gabor
- Er hat sich
vergangen!
-
- Frau Gabor
- Er hat sich nicht
vergangen!
-
- Herr Gabor
- Er hat sich vergangen! -
- - Ich hätte alles darum gegeben, es deiner
grenzenlosen Liebe ersparen zu dürfen. - - Heute
morgen kommt eine Frau zu mir, vergeistert, kaum ihrer
Sprache mächtig, mit diesem Brief in der Hand -
einem Brief an ihre fünfzehnjährige Tochter.
Aus dummer Neugierde habe sie ihn erbrochen; das
Mädchen war nicht zu Haus. - In dem Brief
erklärte Melchior dem fünfzehnjährigen
Kind, daß ihm seine Handlungsweise keine Ruhe
lasse, er habe sich an ihr versündigt usw. usw.,
werde indessen natürlich für alles einstehen.
Sie möge sich nicht grämen, auch wenn sie
Folgen spüre. Er sei bereits auf dem Wege, Hilfe zu
schaffen; seine Relegation erleichtere ihm das. Der
ehemalige Fehltritt könne noch zu ihrem Glücke
führen - und was des unsinnigen Gewäsches mehr
ist.
-
- Frau Gabor
- Unmöglich!!
-
- Herr Gabor
- Der Brief ist
gefälscht. Es liegt Betrug vor. Man sucht eine
stadtbekannte Relegation nutzbar zu machen. Ich habe mit
dem Jungen noch nicht gesprochen - aber sieh bitte die
Hand! Sieh die Schreibweise!
-
- Frau Gabor
- Ein unerhörtes,
schamloses Bubenstück!
-
- Herr Gabor
- Das fürchte
ich!
-
- Frau Gabor
- Nein, nein - nie und
nimmer!
-
- Herr Gabor
- Um so besser wird es
für uns sein. - Die Frau fragt mich
händeringend, was sie tun solle. Ich sagte ihr, sie
solle ihre fünfzehnjährige Tochter nicht auf
Heuböden herumklettern lassen. Den Brief hat sie mir
glücklicherweise dagelassen. - Schicken wir Melchior
nun auf ein anderes Gymnasium, wo er nicht einmal unter
elterlicher Aufsicht steht, so haben wir in drei Wochen
den nämlichen Fall - neue Relegation - sein
frühlingsfreudiges Herz gewöhnt sich nachgerade
daran. - Sag mir, Fanny, wo soll ich hin mit dem
Jungen?!
-
- Frau Gabor
- - In die
Korrektionsanstalt -
-
- Herr Gabor
- In die...?
-
- Frau
Gabor
- ...
Korrektionsanstalt!
-
- Herr Gabor
- Er findet dort in erster
Linie, was ihm zu Hause ungerechterweise vorenthalten
wurde: eherne Disziplin, Grundsätze und einen
moralischen Zwang, dem er sich unter allen Umständen
zu fügen hat. - Im übrigen ist die
Korrektionsanstalt nicht der Ort des Schreckens, den du
dir darunter denkst. Das Hauptgewicht legt man in der
Anstalt auf Entwicklung einer christlichen Denk- und
Empfindungsweise. Der Junge lernt dort endlich das Gute
wollen statt des Interessanten und bei seinen Handlungen
nicht sein Naturell, sondern das Gesetz in Frage ziehen.
- Vor einer halben Stunde erhalte ich ein Telegramm von
meinem Bruder, das mir die Aussagen der Frau
bestätigt. Melchior hat sich ihm anvertraut und ihn
um 200 Mark zur Flucht nach England
gebeten...
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- Frau Gabor
- bedeckt ihr Gesicht
- Barmherziger
Himmel!
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