20.
Jahrhundert
19.
Jahrhundert
Spätromantik
Wedekind
Biographie
Werke
Inhaltsangabe
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Frank
Wedekind :
Frühlings Erwachen, 2. Akt, 1.
Szene
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-
- Abend auf Melchiors
Studierzimmer. Das Fenster steht offen, die Lampe brennt
auf dem Tisch. - Melchior und Moritz auf dem
Kanapee.
-
- Moritz
- Jetzt bin ich wieder
ganz munter, nur etwas aufgeregt. - Aber in der
Griechischstunde habe ich doch geschlafen wie der
besoffene Polyphem. Nimmt mich wunder, daß mich der
alte Zungenschlag nicht in die Ohren gezwickt. - Heut
früh wäre ich um ein Haar noch zu spät
gekommen. - Mein erster Gedanke beim Erwachen waren die
Verba auf "mi". -
- Himmel - Herrgott
-Teufel - Donnerwetter, während des
Frühstücks und den Weg entlang habe ich
konjugiert, daß mir grün vor den Augen wurde.
- Kurz nach drei muß ich abgeschnappt sein. Die
Feder hat mir noch einen Klecks ins Buch gemacht. Die
Lampe qualmte, als Mathilde mich weckte, in den
Fliederbüschen unter dem Fenster zwitscherten die
Amseln so lebensfroh - mir ward gleich wieder unsagbar
melancholisch zumute. Ich band mir den Kragen um und fuhr
mit der Bürste durchs Haar. - - Aber man fühlt
sich, wenn man seiner Natur etwas abgerungen!
-
- Melchior
- Darf ich dir eine
Zigarette drehen?
-
- Moritz
- Danke, ich rauche nicht.
- Wenn es nun nur so weitergeht! Ich will arbeiten und
arbeiten, bis mir die Augen zum Kopf herausplatzen. -
Ernst Röbel hat seit den Ferien schon sechsmal
nichts gekonnt; dreimal im Griechischen, zweimal bei
Knochenbruch; das letztemal in der Literaturgeschichte.
Ich war erst fünfmal in der bedauernswerten Lage;
und von heute ab kommt es überhaupt nicht mehr vor!
- Röbel erschießt sich nicht. Röbel hat
keine Eltern, die ihm ihr alles opfern. Er kann, wann er
will, Söldner, Cowboy oder Matrose werden. Wenn ich
durchfalle, rührt meinen Vater der Schlag, und Mama
kommt ins Irrenhaus. So was erlebt man nicht! -
- Vor dem Examen habe ich
zu Gott gefleht, er möge mich schwindsüchtig
werden lassen, auf daß der Kelch ungenossen
vorübergehe. - Er ging vorüber - wenngleich mir
auch heute noch seine Aureole aus der Ferne
entgegenleuchtet, daß ich Tag und Nacht den Blick
nicht zu heben wage. - Aber nun ich die Stange
erfaßt, werde ich mich auch hinaufschwingen.
Dafür bürgt mir die unabänderliche
Konsequenz, daß ich nicht stürze, ohne das
Genick zu brechen.
-
- Melchior
- Das Leben ist von einer
ungeahnten Gemeinheit. Ich hätte nicht übel
Lust, mich in die Zweige zu hängen. - Wo Mama mit
dem Tee nur bleibt!
-
- Moritz
- Dein Tee wird mir
guttun, Melchior! Ich zittre nämlich. Ich fühle
mich so eigentümlich vergeistert. Betaste mich bitte
mal. Ich sehe - ich höre - ich fühle viel
deutlicher - und doch alles so traumhaft - oh, so
stimmungsvoll. - Wie sich dort im Mondschein der Garten
dehnt, so still, so tief, als ging' er ins Unendliche. -
Unter den Büschen treten umflorte Gestalten hervor,
huschen in atemloser Geschäftigkeit über die
Lichtungen und verschwinden im Halbdunkel. Mir scheint,
unter dem Kastanienbaum soll eine Ratsversammlung
gehalten werden. - Wollen wir nicht
hinunter,Melchior?
-
- Melchior
- Warten wir, bis wir Tee
getrunken.
-
- Moritz
- Die Blätter
flüstern so emsig. - Es ist, als hörte ich
Großmutter selig die Geschichte von der
"Königin ohne Kopf" erzählen. - Das war eine
wunderschöne Königin, schön wie die Sonne,
schöner als alle Mädchen im Land. Nur war sie
leider ohne Kopf auf die Welt gekommen. Sie konnte nicht
essen, nicht trinken, konnte nicht sehen, nicht lachen
und auch nicht küssen. Sie vermochte sich mit ihrem
Hofstaat nur durch ihre kleine weiche Hand zu
verständigen. Mit den zierlichen Füßen
strampelte sie Kriegserklärungen und Todesurteile.
Da wurde sie eines Tages von einem Könige besiegt,
der zufällig zwei Köpfe hatte, die sich das
ganze Jahr in den Haaren lagen und dabei so aufgeregt
disputierten, daß keiner den andern zu Wort kommen
ließ. Der Oberhofzauberer nahm nun den kleineren
der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und
siehe, er stand ihr vortrefflich. Darauf heiratete der
König die Königin, und die beiden lagen
einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern
küßten einander auf Stirn, auf Wangen und Mund
und lebten noch lange Jahre glücklich und in
Freuden... Verwünschter Unsinn! Seit den Ferien
kommt mir die kopflose Königin nicht aus dem Kopf.
Wenn ich ein schönes Mädchen sehe, sehe ich es
ohne Kopf - und erscheine mir dann plötzlich selber
als kopflose Königin... Möglich, daß mir
noch mal einer aufgesetzt wird.
-
- Frau Gabor kommt mit
dem dampfenden Tee, den sie vor Moritz und Melchior auf
den Tisch setzt.
-
- Frau Gabor
- Hier, Kinder, laßt
es euch munden. Guten Abend, Herr Stiefel; wie geht es
Ihnen?
-
- Moritz
- Danke, Frau Gabor. - Ich
belausche den Reigen dort unten.
-
- Frau Gabor
- Sie sehen aber gar nicht
gut aus. - Fühlen Sie sich nicht wohl?
-
- Moritz
- Es hat nichts zu sagen.
Ich bin die letzten Abende etwas spät zu Bett
gekommen.
-
- Melchior
- Denke dir, er hat die
ganze Nacht durchgearbeitet.
-
- Frau Gabor
- Sie sollten so etwas
nicht tun, Herr Stiefel. Sie sollten sich schonen.
Bedenken Sie Ihre Gesundheit. Die Schule ersetzt Ihnen
die Gesundheit nicht. - Fleißig spazierengehn in
der frischen Luft! Das ist in Ihren Jahren mehr wert als
ein korrektes Mittelhochdeutsch.
-
- Moritz
- Ich werde fleißig
spazierengehn. Sie haben recht. Man kann auch
während des Spazierengehens fleißig sein.
Daß ich noch selbst nicht auf den Gedanken
gekommen! - Die schriftlichen Arbeiten müßte
ich immerhin zu Hause machen.
-
- Melchior
- Das Schriftliche machst
du bei mir; so wird es uns beiden leichter. - Du
weißt ja, Mama, daß Max von Trenk am
Nervenfieber darniederlag! - Heute mittag kommt
Hänschen Rilow von Trenks Totenbett zu Rektor
Sonnenstich, um anzuzeigen, daß Trenk soeben in
seiner Gegenwart gestorben sei. - "So?" sagt Sonnenstich,
"hast du von letzter Woche her nicht noch zwei Stunden
nachzusitzen? - Hier ist der Zettel an den Pedell. Mach,
daß die Sache endlich ins reine kommt! Die ganze
Klasse soll an der Beerdigung teilnehmen." -
Hänschen war wie gelähmt.
-
- Frau Gabor
- Was hast du da für
ein Buch, Melchior?
-
- Melchior
- "Faust".
-
- Frau Gabor
- Hast du es schon
gelesen?
-
- Melchior
- Noch nicht zu
Ende.
-
- Moritz
- Wir
sind gerade in der Walpurgisnacht.
-
- Frau Gabor
- Ich hätte an deiner
Stelle noch ein, zwei Jahre damit gewartet.
-
- Melchior
- Ich kenne kein Buch,
Mama, in dem ich so viel Schönes gefunden. Warum
hätte ich es nicht lesen sollen?
-
- Frau Gabor
- Weil du es nicht
verstehst.
-
- Melchior
- Das kannst du nicht
wissen, Mama. Ich fühle sehr wohl, daß ich das
Werk in seiner ganzen Erhabenheit zu erfassen noch nicht
imstande bin...
-
- Moritz
- Wir lesen immer zu
zweit; das erleichtert das Verständnis
außerordentlich!
-
- Frau Gabor
- Du bist alt genug,
Melchior, um wissen zu können, was dir
zuträglich und was dir schädlich ist. Tu, was
du vor dir verantworten kannst. Ich werde die erste sein,
die es dankbar anerkennt, wenn du mir niemals Grund
gibst, dir etwas vorenthalten zu müssen. - Ich
wollte dich nur darauf aufmerksam machen, daß auch
das Beste nachteilig wirken kann, wenn man noch die Reife
nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen. - Ich werde
mein Vertrauen immer lieber in dich als in
irgendbeliebige erzieherische Maßregeln setzen. - -
Wenn ihr noch etwas braucht, Kinder, dann komm
herüber, Melchior, und rufe mich. Ich bin auf meinem
Schlafzimmer. Ab
-
- Moritz
- Deine
Mama meinte die Geschichte mit
Gretchen.
-
- Melchior
- Haben wir uns auch nur
einen Moment dabei aufgehalten!
-
- Moritz
- Faust selber kann sich
nicht kaltblütiger darüber hinweggesetzt
haben!
-
- Melchior
- Das Kunstwerk gipfelt
doch schließlich nicht in dieser
Schändlichkeit! - Faust könnte dem Mädchen
die Heirat versprochen, könnte es daraufhin
verlassen haben, er wäre in meinen Augen um kein
Haar weniger strafbar. Gretchen könnte ja
meinethalben an gebrochenem Herzen sterben. - Sieht man,
wie jeder darauf immer gleich krampfhaft die Blicke
richtet, man möchte glauben, die ganze Welt drehe
sich um P... und V...!
-
- Moritz
- Wenn ich aufrichtig sein
soll, Melchior, so habe ich nämlich tatsächlich
das Gefühl, seit ich deinen Aufsatz gelesen. - In
den ersten Feiertagen fiel er mir vor die
Füße. Ich hatte den Plötz in der Hand. -
Ich verriegelte die Tür und durchflog die
flimmernden Zeilen, wie eine aufgeschreckte Eule einen
brennenden Wald durchfliegt - ich glaube, ich habe das
meiste mit geschlossenen Augen gelesen. Wie eine Reihe
dunkler Erinnerungen klangen mir deine
Auseinandersetzungen ins Ohr, wie ein Lied, das einer als
Kind einst fröhlich vor sich hingesummt und das ihm,
wie er eben im Sterben liegt, herzerschütternd aus
dem Mund eines andern entgegentönt. - Am heftigsten
zog mich in Mitleidenschaft, was du vom Mädchen
schreibst. Ich werde die Eindrücke nicht mehr los.
Glaub' mir, Melchior, Unrecht leiden zu müssen ist
süßer denn Unrecht tun! Unverschuldet ein so
süßes Unrecht über sich ergehen lassen zu
müssen, scheint mir der Inbegriff aller irdischen
Seligkeit.
-
- Melchior
- Ich will meine Seligkeit
nicht als Almosen!
-
- Moritz
- Aber warum denn
nicht?
-
- Melchior
- Ich will nichts, was ich
mir nicht habe erkämpfen müssen!
-
- Moritz
- Ist dann das noch
Genuß, Melchior? - Das Mädchen, Melchior,
genießt wie die seligen Götter. Das
Mädchen wehrt sich dank seiner Veranlagung. Es
hält sich bis zum letzten Augenblick von jeder
Bitternis frei, um mit einem Male alle Himmel über
sich hereinbrechen zu sehen. Das Mädchen
fürchtet die Hölle noch in dem Moment, da es
ein erblühendes Paradies wahrnimmt. Sein Empfinden
ist so frisch wie der Quell, der dem Fels entspringt. Das
Mädchen ergreift einen Pokal, über den noch
kein irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen
Inhalt es, wie er flammt und flackert,
hinunterschlingt... Die Befriedigung, die der Mann dabei
findet, denke ich mir schal und abgestanden.
-
- Melchior
- Denke sie dir, wie du
magst, aber behalte sie für dich. - Ich denke sie
mir nicht gern...
-
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