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Kulturgeschichte - 19. Jahrhundert


20. Jahrhundert
19. Jahrhundert
Spätromantik

Wedekind
Biographie
Werke

 

Inhaltsangabe

1.1

1.2

1.3

1.4

1.5

2.1

2.2

2.3

2.4

2.5

2.6

2.7

3.1

3.2

3.3

3.4

3.5

3.6

3.7

Frank Wedekind:
Frühlings Erwachen, 1. Akt, 3. Szene

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Thea, Wendla und Martha kommen Arm in Arm die Straße herauf.
 
Martha
Wie einem das Wasser ins Schuhwerk dringt!
 
Wendla
Wie einem der Wind um die Wangen saust!
 
Thea
Wie einem das Herz hämmert!
 
Wendla
Gehn wir zur Brücke hinaus! Ilse sagte, der Fluß führe Sträucher und Bäume. Die Jungens haben ein Floß auf dem Wasser. Melchi Gabor soll gestern abend beinah ertrunken sein.
 
Thea
O, der kann schwimmen!
 
Martha
Das will ich meinen, Kind!
 
Wendla
Wenn der nicht hätte schwimmen können wäre er wohl sicher ertrunken!
 
Thea
Dein Zopf geht auf, Martha; dein Zopf geht auf!
 
Martha
Puh - laß ihn aufgehn! Er ärgert mich so Tag und Nacht. Kurze Haare tragen wie du darf ich nicht, das Haar offen tragen wie Wendla darf ich nicht, Ponyhaare tragen darf ich nicht, und zu Hause muß ich mir gar die Frisur machen - alles der Tanten wegen!
 
Wendla
Ich bringe morgen eine Schere mit in die Religionsstunde. Während du »Wohl dem, der nicht wandelt« rezitierst, werd' ich ihn abschneiden.
 
Martha
Um Gottes willen, Wendla! Papa schlägt mich krumm, und Mama sperrt mich drei Nächte ins Kohlenloch.
 
Wendla
Womit schlägt er dich, Martha?
 
Martha
Manchmal ist es mir, es müßte ihnen doch etwas abgehen, wenn sie keinen so schlecht gearteten Balg hätten wie ich.
 
Thea
Aber Mädchen!
 
Martha
Hast du dir nicht auch ein himmelblaues Band durch die Hemdpasse <angedeuteter Umhang am Hemd> ziehen dürfen?
 
Thea
Rosa Atlas! Mama behauptet, Rosa stehe mir bei meinen pechschwarzen Augen.
 
Martha
Mir stand Blau reizend! - Mama riß mich am Zopf zum Bett heraus. So - fiel ich mit den Händen vorauf auf die Diele. - Mama betet nämlich Abend für Abend mit uns...
 
Wendla
Ich an deiner Stelle wäre ihnen längst in die Welt hinausgelaufen.
 
Martha
... Da habe man's, worauf ich ausgehe! - Da habe man's ja! - Aber sie wolle schon sehen - o sie wolle noch sehen! Meiner Mutter wenigstens solle ich einmal keine Vorwürfe machen können...
 
Thea
Hu - Hu -
 
Martha
Kannst du dir denken, Thea, was Mama damit meinte?
 
Thea
Ich nicht. - Du,Wendla?
 
Wendla
Ich hätte sie einfach gefragt.
 
Martha
Ich lag auf der Erde und schrie und heulte. Da kommt Papa. Ritsch - das Hemd herunter. Ich zur Türe hinaus. Da habe man's. Ich wolle nun wohl so auf die Straße hinunter...
 
Wendla
Das ist doch gar nicht wahr, Martha.
 
Martha
Ich fror. Ich schloß auf. Ich habe die ganze Nacht im Sack schlafen müssen.
 
Thea
Ich könnte mein Lebtag in keinem Sack schlafen!
 
Wendla
Ich möchte ganz gern mal für dich in deinem Sack schlafen.
 
Martha
Wenn man nur nicht geschlagen wird.
 
Thea
Aber man erstickt doch darin!
 
Martha
Der Kopf bleibt frei. Unter dem Kinn wird zugebunden.
 
Thea
Und dann schlagen sie dich?
 
Martha
Nein. Nur wenn etwas Besonderes vorliegt.
 
Wendla
Womit schlägt man dich, Martha?
 
Martha
Ach was - mit allerhand. - Hält es deine Mutter auch für unanständig, im Bett ein Stück Brot zu essen?
 
Wendla
Nein, nein.
 
Martha
Ich glaube immer, sie haben doch ihre Freude - wenn sie auch nichts davon sagen. - Wenn ich einmal Kinder habe, ich lasse sie aufwachsen wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um das kümmert sich niemand, und es steht so hoch, so dicht - während die Rosen in den Beeten an ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher blühn.
 
Thea
Wenn ich Kinder habe, kleid' ich sie ganz in Rosa, Rosahüte, Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur die Strümpfe - die Strümpfe schwarz wie die Nacht! Wenn ich dann spazierengehe, laß ich sie vor mir hermarschieren. - Und du,Wendla?
 
Wendla
Wißt ihr denn, ob ihr welche bekommt?
 
Thea
Warum sollten wir keine bekommen?
 
Martha
Tante Euphemia hat allerdings auch keine.
 
Thea
Gänschen! - weil sie nicht verheiratet ist.
 
Wendla
Tante Bauer war dreimal verheiratet und hat nicht ein einziges.
 
Martha
Wenn du welche bekommst, Wendla, was möchtest du lieber, Knaben oder Mädchen?
 
Wendla
Jungens! Jungens!
 
Thea
Ich auch Jungens!
 
Martha
Ich auch. Lieber zwanzig Jungens als drei Mädchen.
 
Thea
Mädchen sind langweilig!
 
Martha
Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden wäre, ich würde es heute gewiß nicht mehr.
 
Wendla
Das ist, glaube ich, Geschmacksache, Martha! Ich freue mich jeden Tag, daß ich ein Mädchen bin. Glaub' mir, ich wollte mit keinem Königssohn tauschen. - Darum möchte ich aber doch nur Buben!
 
Thea
Das ist doch Unsinn, lauter Unsinn,Wendla!
 
Wendla
Aber ich bitte dich, Kind, es muß doch tausendmal erhebender sein, von einem Manne geliebt zu werden, als von einem Mädchen!
 
Thea
Du wirst doch nicht behaupten wollen, Forstreferendar Pfälle liebe Melitta mehr als sie ihn!
 
Wendla
Das will ich wohl, Thea! - Pfälle ist stolz. Pfälle ist stolz darauf, daß er Forstreferendar ist - denn Pfälle hat nichts. - Melitta ist selig, weil sie zehntausendmal mehr bekommt, als sie ist.
 
Martha
Bist du nicht stolz auf dich,Wendla?
 
Wendla
Das wäre doch einfältig.
 
Martha
Wie wollt' ich stolz sein an deiner Stelle!
 
Thea
Sieh doch nur, wie sie die Füße setzt - wie sie geradeaus schaut - wie sie sich hält, Martha! - Wenn das nicht Stolz ist!
 
Wendla
Wozu nur? Ich bin so glücklich, ein Mädchen zu sein; wenn ich kein Mädchen wär', brächt' ich mich um, um das nächste Mal...
 
Melchior geht vorüber und grüßt.
 
Thea
Er hat einen wundervollen Kopf.
 
Martha
So denke ich mir den jungen Alexander, als er zu Aristoteles in die Schule ging.
 
Thea
Du lieber Gott, die griechische Geschichte! ich weiß nur noch, wie Sokrates in der Tonne lag, als ihm Alexander den Eselsschatten verkaufte.
 
Wendla
Er soll der Drittbeste in seiner Klasse sein.
 
Thea
Professor Knochenbruch sagt, wenn er wollte, könnte er Primus sein.
 
Martha
Er hat eine schöne Stirn, aber sein Freund hat einen seelenvolleren Blick.
 
Thea
Moritz Stiefel? - Ist das eine Schlafmütze!
 
Martha
Ich habe mich immer ganz gut mit ihm unterhalten.
 
Thea
Er blamiert einen, wo man ihn trifft. Auf dem Kinderball bei Rilows bot er mir Pralinés an. Denke dir,Wendla, die waren weich und warm. Ist das nicht...? - Er sagte, er habe sie zu lang in der Hosentasche gehabt.
 
Wendla
Denke dir, Melchi Gabor sagte mir damals, er glaube an nichts - nicht an Gott, nicht an ein Jenseits - an gar nichts mehr in dieser Welt. 
  
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