20.
Jahrhundert
19.
Jahrhundert
Spätromantik
Wedekind
Biographie
Werke
Inhaltsangabe
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Frank
Wedekind:
Frühlings Erwachen, 2. Akt, 2.
Szene
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-
- Wohnzimmer
-
- Frau Bergmann
- den Hut auf, die
Mantille um, einen Korb am Arm, mit strahlendem Gesicht
durch die Mitteltür eintretend
- Wendla! -
Wendla!
-
- Wendla
- erscheint in
Unterröckchen und Korsett in der Seitentüre
rechts
- Was gibt's,
Mutter?
-
- Frau Bergmann
- Du bist schon auf, Kind?
- Sieh, das ist schön von dir!
-
- Wendla
- Du warst schon
ausgegangen?
-
- Frau
Bergmann
- Zieh dich nun nur flink
an! - Du mußt gleich zu Ina hinunter, du mußt
ihr den Korb da bringen!
-
- Wendla
- sich während des
Folgenden vollends ankleidend
- Du warst bei Ina? - Wie
geht es Ina? - Will's noch immer nicht
bessern?
-
- Frau Bergmann
- Denk dir, Wendla, diese
Nacht war der Storch bei ihr und hat ihr einen kleinen
Jungen gebracht.
-
- Wendla
- Einen Jungen? - Einen
Jungen! - O das ist herrlich - Deshalb die langwierige
Influenza!
-
- Frau Bergmann
- Einen prächtigen
Jungen!
-
- Wendla
- Den muß ich sehen,
Mutter! - So bin ich nun zum dritten Male Tante geworden
- Tante von einem Mädchen und zwei
Jungens!
-
- Frau Bergmann
- Und was für
Jungens! - So geht's eben, wenn man so dicht beim
Kirchendach wohnt! - Morgen sind's erst zwei Jahr,
daß sie in ihrem Mullkleid die Stufen
hinanstieg.
-
- Wendla
- Warst du dabei, als er
ihn brachte?
-
- Frau Bergmann
- Er war eben wieder
fortgezogen. - Willst du dir nicht eine Rose
vorstecken?
-
- Wendla
- Warum kamst du nicht
etwas früher hin, Mutter?
-
- Frau Bergmann
- Ich glaube aber beinahe,
er hat dir auch etwas mitgebracht - eine Brosche oder
was.
-
- Wendla
- Es ist wirklich
schade!
-
- Frau Bergmann
- Ich sage dir ja,
daß er dir eine Brosche mitgebracht
hat!
-
- Wendla
- Ich habe Broschen
genug...
-
- Frau Bergmann
- Dann sei auch zufrieden,
Kind. Was willst du denn noch?
-
- Wendla
- Ich hätte so
furchtbar gerne gewußt, ob er durchs Fenster oder
durch den Schornstein geflogen kam.
-
- Frau Bergmann
- Da mußt du Ina
fragen. Ha, das mußt du Ina fragen, liebes Herz!
Ina sagt dir das ganz genau. Ina hat ja eine ganze halbe
Stunde mit ihm gesprochen.
-
- Wendla
- Ich werde Ina fragen,
wenn ich hinunterkomme.
-
- Frau Bergmann
- Aber ja nicht vergessen,
du süßes Engelsgeschöpf! Es interessiert
mich wirklich selbst, zu wissen, ob er durchs Fenster
oder durch den Schornstein kam.
-
- Wendla
- Oder soll ich nicht
lieber den Schornsteinfeger fragen? - Der
Schornsteinfeger muß es doch am besten wissen, ob
er durch den Schornstein fliegt oder nicht.
-
- Frau Bergmann
- Nicht den
Schornsteinfeger, Kind; nicht den Schornsteinfeger. Was
weiß der Schornsteinfeger vom Storch! - Der
schwatzt dir allerhand dummes Zeug vor, an das er selbst
nicht glaubt... Wa-was glotzt du so auf die Straße
hinunter??
-
- Wendla
- Ein Mann, Mutter -
dreimal so groß wie ein Ochse! - mit
Füßen wie Dampfschiffe...!
-
- Frau
Bergmann
- ans Fenster
stürzend
- Nicht möglich! -
Nicht möglich! -
-
- Wendla
- zugleich
- Eine Bettlade hält
er unterm Kinn, fiedelt die Wacht am Rhein drauf - -
eben biegt er um die Ecke...
-
- Frau Bergmann
- Du bist und bleibst doch
ein Kindskopf! - Deine alte einfältige Mutter so in
Schrecken jagen! - Geh, nimm deinen Hut. Nimmt mich
wunder, wann bei dir einmal der Verstand kommt. - Ich
habe die Hoffnung aufgegeben.
-
- Wendla
- Ich auch,
Mütterchen, ich auch. - Um meinen Verstand ist es
ein traurig Ding. - Hab' ich nun eine Schwester, die seit
zwei und einem halben Jahr verheiratet, und ich selber
bin zum dritten Male Tante geworden, und habe gar keinen
Begriff, wie das alles zugeht... Nicht böse werden,
Mütterchen; nicht böse werden! Wen in der Welt
soll ich denn fragen als dich! Bitte, liebe Mutter, sag
es mir! Sag's mir, geliebtes Mütterchen! Ich
schäme mich vor mir selber. Ich bitte dich, Mutter,
sprich! Schilt mich nicht, daß ich so etwas frage.
Gib mir Antwort - wie geht es zu? - wie kommt das alles?
- Du kannst doch im Ernst nicht verlangen, daß ich
bei meinen vierzehn Jahren noch an den Storch
glaube.
-
- Frau Bergmann
- Aber du großer
Gott, Kind, wie bist du sonderbar! - Was du für
Einfälle hast! - Das kann ich ja doch wahrhaftig
nicht!
-
- Wendla
- Warum denn nicht,
Mutter! - Warum denn nicht! - Es kann ja doch nichts
Häßliches sein, wenn sich alles darüber
freut!
-
- Frau Bergmann
- O - o Gott behüte
mich! - Ich verdiente ja... Geh, zieh dich an,
Mädchen; zieh dich an!
-
- Wendla
- Ich gehe... Und wenn
dein Kind nun hingeht und fragt den
Schornsteinfeger?
-
- Frau Bergmann
- Aber das ist ja zum
Närrischwerden! - Komm, Kind, komm her, ich sage es
dir! Ich sage dir alles... O du grundgütige
Allmacht! - nur heute nicht,Wendla! - Morgen,
übermorgen, kommende Woche... wann du nur immer
willst, liebes Herz...
-
- Wendla
- Sag es mir heute,
Mutter; sag es mir jetzt! Jetzt gleich! - Nun ich dich so
entsetzt gesehen, kann ich erst recht nicht eher wieder
ruhig werden.
-
- Frau Bergmann
- Ich kann nicht,
Wendla.
-
- Wendla
- Oh, warum kannst du
nicht, Mütterchen! - Hier knie ich zu deinen
Füßen und lege dir meinen Kopf in den
Schoß. Du deckst mir deine Schürze über
den Kopf und erzählst und erzählst, als
wärst du mutterseelenallein im Zimmer. Ich will
nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will geduldig
ausharren, was immer kommen mag.
-
- Frau Bergmann
- Der Himmel
weiß,Wendla, daß ich nicht die Schuld trage!
Der Himmel kennt mich! - Komm in Gottes Namen! - Ich will
dir erzählen, Mädchen, wie du in diese Welt
hineingekommen. - So hör mich an,
Wendla...
-
- Wendla
- unter ihrer
Schürze
- Ich
höre.
-
- Frau Bergmann
- ekstatisch
- Aber es geht ja nicht,
Kind! - Ich kann es ja nicht verantworten. - Ich verdiene
ja, daß man mich ins Gefängnis setzt -
daß man dich von mir nimmt...
-
- Wendla
- unter ihrer
Schürze
- Faß dir ein Herz,
Mutter!
-
- Frau Bergmann
- So höre
denn...!
-
- Wendla
- unter ihrer
Schürze, zitternd
- O Gott, o
Gott!
-
- Frau Bergmann
- Um ein Kind zu bekommen
- du verstehst mich, Wendla?
-
- Wendla
- Rasch, Mutter - ich
halt's nicht mehr aus.
-
- Frau Bergmann
- Um ein Kind zu bekommen
- muß man den Mann - mit dem man verheiratet ist...
- lieben - lieben sag' ich
dir - wie man nur einen Mann lieben kann! Man muß
ihn so sehr von ganzem Herzen lieben, - wie sich's nicht
sagen läßt! Man muß ihn lieben, Wendla,
wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst...
Jetzt weißt du's.
-
- Wendla
- sich erhebend
- Großer - Gott - im
Himmel!
-
- Frau Bergmann
- Jetzt weißt du,
welche Prüfungen dir bevorstehen!
-
- Wendla
- Und das ist
alles?
-
- Frau Bergmann
- So wahr mir Gott helfe!
- - Nimm nun den Korb da und geh zu Ina hinunter. Du
bekommst dort Schokolade und Kuchen dazu. - Komm,
laß dich noch einmal betrachten - die
Schnürstiefel, die seidenen Handschuhe, die
Matrosentaille, die Rosen im Haar... dein Röckchen
wird dir aber wahrhaftig nachgerade zu kurz,
Wendla!
-
- Wendla
- Hast du für Mittag
schon Fleisch gebracht, Mütterchen?
-
- Frau Bergmann
- Der liebe Gott
behüte dich und segne dich - Ich werde dir
gelegentlich eine Handbreit Volants unten
ansetzen.
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