20.
Jahrhundert
19.
Jahrhundert
Spätromantik
Wedekind
Biographie
Werke
Inhaltsangabe
|
Frank
Wedekind:
Frühlings Erwachen, 1. Akt, 2.
Szene
|
zurück
- weiter
-
- Sonntag
abend
-
- Melchior
- Das ist mir zu
langweilig. Ich mache nicht mehr mit.
-
- Otto
- Dann können wir
andern nur auch aufhören! - Hast du die Arbeiten,
Melchior?
-
- Melchior
- Spielt ihr nur
weiter!
-
- Moritz
- Wohin gehst
du?
-
- Melchior
- Spazieren.
-
- Georg
- Es wird ja
dunkel!
-
- Robert
- Hast du die Arbeiten
schon?
-
- Melchior
- Warum soll ich denn
nicht im Dunkeln spazierengehn?
-
- Ernst
- Zentralamerika! - Ludwig
der Fünfzehnte! Sechzig Verse Homer! - Sieben
Gleichungen!
-
- Melchior
- Verdammte
Arbeiten!
-
- Georg
- Wenn nur wenigstens der
lateinische Aufsatz nicht auf morgen
wäre!
-
- Moritz
- An nichts kann man
denken, ohne daß einem Arbeiten
dazwischenkommen!
-
- Otto
- Ich gehe nach
Hause.
-
- Georg
- Ich auch, Arbeiten
machen.
-
- Ernst
- Ich auch, ich
auch.
-
- Robert
- Gute Nacht,
Melchior.
-
- Melchior
- Schlaft
wohl!
-
- Alle entfernen sich
bis auf Moritz und Melchior.
-
- Melchior
- Möchte doch wissen,
wozu wir eigentlich auf der Welt sind!
-
- Moritz
- Lieber wollt' ich ein
Droschkengaul sein um der Schule willen! - Wozu gehen wir
in die Schule? - Wir gehen in die Schule, damit man uns
examinieren kann! - Und wozu examiniert man uns? - Damit
wir durchfallen. - Sieben müssen ja durchfallen,
schon weil das Klassenzimmer oben nur sechzig faßt.
- Mir ist so eigentümlich seit Weihnachten... hol
mich der Teufel, wäre Papa nicht, heut noch
schnürt' ich mein Bündel und ginge nach
Altona!
-
- Melchior
- Reden wir von etwas
anderem. -
-
- Sie gehen
spazieren.
-
- Moritz
- Siehst du die schwarze
Katze dort mit dem emporgereckten Schweif?
-
- Melchior
- Glaubst du an
Vorbedeutungen?
-
- Moritz
- Ich weiß nicht
recht. - - Sie kam von drüben her. Es hat nichts zu
sagen.
-
- Melchior
- Ich glaube, das ist eine
Charybdis <ein
Strudel>, in die
jeder stürzt, der sich aus der Skylla
<eine Art
Hölle> religiösen
Irrwahns emporgerungen. - - Laß uns hier unter der
Buche Platz nehmen. Der Tauwind fegt über die Berge.
Jetzt möchte ich droben im Wald eine junge
Dryade
<Baumnymphe>
sein, die sich die ganze lange Nacht in den höchsten
Wipfeln wiegen und schaukeln läßt.
-
- Moritz
- Knöpf dir die Weste
auf, Melchior!
-
- Melchior
- Ha - wie das einem die
Kleider bläht!
-
- Moritz
- Es wird weiß Gott
so stockfinster, daß man die Hand nicht vor den
Augen sieht. Wo bist du eigentlich? - - Glaubst du nicht
auch, Melchior, daß das Schamgefühl im
Menschen nur ein Produkt seiner Erziehung
ist?
-
- Melchior
- Darüber habe ich
erst vorgestern noch nachgedacht. Es scheint mir immerhin
tief eingewurzelt in der menschlichen Natur. Denke dir,
du sollst dich vollständig entkleiden vor deinem
besten Freund. Du wirst es nicht tun, wenn er es nicht
zugleich auch tut. - Es ist eben auch mehr oder weniger
Modesache.
-
- Moritz
- Ich habe mir schon
gedacht, wenn ich Kinder habe, Knaben und Mädchen,
so lasse ich sie von früh auf im nämlichen
Gemach, wenn möglich auf ein und demselben Lager,
zusammenschlafen, lasse ich sie morgens und abends beim
An- und Auskleiden einander behilflich sein und in der
heißen Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die
Mädchen, tagsüber nichts als eine kurze, mit
einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem
Wollstoff tragen. - Mir ist, sie müßten, wenn
sie so heranwachsen, später ruhiger sein, als wir es
in der Regel sind.
-
- Melchior
- Das glaube ich
entschieden, Moritz! - Die Frage ist nur, wenn die
Mädchen Kinder bekommen, was dann?
-
- Moritz
- Wieso Kinder
bekommen?
-
- Melchior
- Ich glaube in dieser
Hinsicht nämlich an einen gewissen Instinkt. Ich
glaube, wenn man einen Kater zum Beispiel mit einer Katze
von Jugend auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr
mit der Außenwelt fernhält, d. h. sie ganz nur
ihren eigenen Trieben überläßt -
daß die Katze früher oder später doch
einmal trächtig wird, obgleich sie sowohl wie der
Kater niemand hatten, dessen Beispiel ihnen hätte
die Augen öffnen können.
-
- Moritz
- Bei Tieren muß
sich das ja schließlich von selbst
ergeben.
-
- Melchior
- Bei Menschen glaube ich
erst recht! Ich bitte dich, Moritz, wenn deine Knaben mit
den Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen und
es kommen ihnen nun unversehens die ersten
männlichen Regungen - ich möchte mit jedermann
eine Wette eingehen...
-
- Moritz
- Darin magst du recht
haben. - Aber immerhin...
-
- Melchior
- Und bei deinen
Mädchen wäre es im entsprechenden Alter
vollkommen das nämliche! Nicht, daß das
Mädchen gerade... man kann das ja freilich so genau
nicht beurteilen... Jedenfalls wäre
vorauszusetzen... und die Neugierde würde das ihrige
zu tun auch nicht verabsäumen!
-
- Moritz
- Eine Frage
beiläufig -
-
- Melchior
- Nun?
-
- Moritz
- Aber du
antwortest?
-
- Melchior
- Natürlich!
-
- Moritz
- Wahr?!
-
- Melchior
- Meine Hand darauf. - -
Nun, Moritz?
-
- Moritz
- Hast du den Aufsatz
schon??
-
- Melchior
- So sprich doch frisch
von der Leber weg! - Hier hört und sieht uns ja
niemand.
-
- Moritz
- Selbstverständlich
müßten meine Kinder nämlich tagsüber
arbeiten, in Hof und Garten, oder sich durch Spiele
zerstreuen, die mit körperlicher Anstrengung
verbunden sind. Sie müßten reiten, turnen,
klettern und vor allen Dingen nachts nicht so weich
schlafen wie wir. Wir sind schrecklich verweichlicht. -
Ich glaube, man träumt gar nicht, wenn man hart
schläft.
-
- Melchior
- Ich schlafe von jetzt
bis nach der Weinlese überhaupt nur in meiner
Hängematte. Ich habe mein Bett hinter den Ofen
gestellt. Es ist zum Zusammenklappen. - Vergangenen
Winter träumte mir einmal, ich hätte unsern
Lolo so lange gepeitscht, bis er kein Glied mehr
rührte. Das war das Grauenhafteste, was ich je
geträumt habe. - Was siehst du mich so sonderbar
an?
-
- Moritz
- Hast du sie schon
empfunden?
-
- Melchior
- Was?
-
- Moritz
- Wie sagtest
du?
-
- Melchior
- Männliche
Regungen?
-
- Moritz
- M-hm.
-
- Melchior
- -
Allerdings!
-
- Moritz
- Ich auch - - - - - - - -
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
-
-
- Melchior
- Ich kenne das
nämlich schon lange! - Schon bald ein
Jahr.
-
- Moritz
- Ich war wie vom Blitz
gerührt.
-
- Melchior
- Du hattest
geträumt?
-
- Moritz
- Aber nur ganz kurz...
von Beinen im himmelblauen Trikot, die über das
Katheder steigen - um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie
wollten hinüber. - Ich habe sie nur flüchtig
gesehen.
-
- Melchior
- Georg Zirschnitz
träumte von seiner Mutter.
-
- Moritz
- Hat er dir das
erzählt?
-
- Melchior
- Draußen am
Galgensteg!
-
- Moritz
- Wenn du
wüßtest, was ich ausgestanden seit jener
Nacht!
-
- Melchior
- Gewissensbisse?
-
- Moritz
- Gewissensbisse?? - - -
Todesangst!
-
- Melchior
- Herrgott...
-
- Moritz
- Ich hielt mich für
unheilbar. Ich glaubte, ich litte an einem inneren
Schaden. - Schließlich wurde ich nur dadurch wieder
ruhiger, daß ich meine Lebenserinnerungen
aufzuzeichnen begann. Ja, ja, lieber Melchior, die
letzten drei Wochen waren ein
Gethsemane
<Zweifel am
Lebenssinn>
für mich.
-
- Melchior
- Ich war seinerzeit mehr
oder weniger darauf gefaßt gewesen. Ich
schämte mich ein wenig. - Das war aber auch
alles.
-
- Moritz
- Und dabei bist du noch
fast um ein ganzes Jahr jünger als ich!
-
- Melchior
- Darüber, Moritz,
würd' ich mir keine Gedanken machen. All meinen
Erfahrungen nach besteht für das erste Auftauchen
dieser Phantome keine bestimmte Altersstufe. Kennst du
den großen Lämmermeier mit dem strohgelben
Haar und der Adlernase? Drei Jahre ist der älter als
ich. Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis
heute von nichts als Sandtorten und
Aprikosengelee.
-
- Moritz
- Ich bitte dich, wie kann
Hänschen Rilow darüber urteilen!
-
- Melchior
- Er hat ihn
gefragt.
-
- Moritz
- Er hat ihn gefragt? -
Ich hätte mich nicht getraut, jemanden zu
fragen.
-
- Melchior
- Du hast mich doch auch
gefragt.
-
- Moritz
- Weiß Gott ja! -
Möglicherweise hatte Hänschen auch schon sein
Testament gemacht. - Wahrlich ein sonderbares Spiel, das
man mit uns treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar
erweisen! Ich erinnere mich nicht, je eine Sehnsucht nach
dieser Art Aufregung verspürt zu haben. Warum hat
man mich nicht ruhig schlafen lassen, bis alles wieder
still gewesen wäre. Meine lieben Eltern hätten
hundert bessere Kinder haben können. So bin ich nun
hergekommen, ich weiß nicht, wie, und soll mich
dafür verantworten, daß ich nicht weggeblieben
bin. - Hast du nicht auch schon darüber nachgedacht,
Melchior, auf welche Art und Weise wir eigentlich in
diesen Strudel hineingeraten?
-
- Melchior
- Du weißt das also
noch nicht, Moritz?
-
- Moritz
- Wie sollt' ich es
wissen? - Ich sehe, wie die Hühner Eier legen, und
höre, daß mich Mama unter dem Herzen getragen
haben will. Aber genügt denn das? - Ich erinnere
mich auch, als fünfjähriges Kind schon befangen
worden zu sein, wenn einer die dekolletierte Coeurdame
< Herzdame>
aufschlug. Dieses
Gefühl hat sich verloren. Indessen kann ich heute
kaum mehr mit irgendeinem Mädchen sprechen, ohne
etwas Verabscheuungswürdiges dabei zu denken, und -
ich schwöre dir, Melchior - ich weiß nicht
was.
-
- Melchior
- Ich sage dir alles. -
Ich habe es teils aus Büchern, teils aus
Illustrationen, teils aus Beobachtungen in der Natur. Du
wirst überrascht sein; ich wurde seinerzeit Atheist.
Ich habe es auch Georg Zirschnitz gesagt! Georg
Zirschnitz wollte es Hänschen Rilow sagen, aber
Hänschen Rilow hatte als Kind schon alles von seiner
Gouvernante erfahren.
-
- Moritz
- Ich habe den Kleinen
Meyer von A bis Z <
Konversationslexikon>
durchgenommen. Worte - nichts als Worte und Worte! Nicht
eine einzige schlichte Erklärung. O dieses
Schamgefühl! - Was soll mir ein
Konversationslexikon, das auf die nächstliegende
Lebensfrage nicht antwortet.
-
- Melchior
- Hast du schon einmal
zwei Hunde über die Straße laufen
sehen?
-
- Moritz
- Nein! - - Sag mir lieber
heute noch nichts, Melchior. Ich habe noch Mittelamerika
und Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die sechzig
Verse Homer, die sieben Gleichungen, der lateinische
Aufsatz - ich würde morgen wieder überall
abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können,
muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse
sein.
-
- Melchior
- Komm doch mit auf mein
Zimmer. In dreiviertel Stunden habe ich den Homer, die
Gleichungen und zwei Aufsätze. Ich korrigiere dir
einige harmlose Schnitzer hinein, so ist die Sache im
Blei <wieder alles
in Ordnung> . Mama
braut uns wieder eine Limonade, und wir plaudern
gemütlich über die Fortpflanzung.
-
- Moritz
- Ich kann nicht. - Ich
kann nicht gemütlich über die Fortpflanzung
plaudern! Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann gib
mir deine Unterweisungen schriftlich. Schreib
mir auf, was du
weißt.
Schreib es möglichst kurz und klar und steck es mir
morgen während der Turnstunde zwischen die
Bücher. Ich werde es nach Hause tragen, ohne zu
wissen, daß ich es habe. Ich werde es unverhofft
einmal wiederfinden. Ich werde nicht umhinkönnen, es
müden Auges zu durchfliegen... falls es
unumgänglich notwendig ist, magst du ja auch
einzelne Randzeichnungen anbringen.
-
- Melchior
- Du bist wie ein
Mädchen. - übrigens wie du willst! Es ist mir
das eine ganz interessante Arbeit. - - Eine Frage,
Moritz.
-
- Moritz
- Hm?
-
- Melchior
- Hast du schon einmal ein
Mädchen gesehen?
-
- Moritz
- Ja!
-
- Melchior
- Aber ganz?!
-
- Moritz
- Vollständig!
-
- Melchior
- Ich nämlich auch! -
Dann werden keine Illustrationen nötig
sein.
-
- Moritz
- Während des
Schützenfestes, in Leilichs anatomischem Museum
<Sammlung für
Mediziner> ! Wenn
es aufgekommen wäre, hätte man mich aus der
Schule gejagt. - Schön wie der lichte Tag, und - o
so naturgetreu!
-
- Melchior
- Ich war letzten Sommer
mit Mama in Frankfurt - Du willst schon gehen,
Moritz?
-
- Moritz
- Arbeiten machen. - Gute
Nacht.
-
- Melchior
- Auf
Wiedersehen.
-
- zurück
- weiter
-
|