20.
Jahrhundert
19.
Jahrhundert
Spätromantik
Wedekind
Biographie
Werke
Inhaltsangabe
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Frank
Wedekind:
Frühlings Erwachen, 2. Akt, 7.
Szene
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-
- Abenddämmerung.
Der Himmel ist leicht bewölkt, der Weg
schlängelt sich durch niedres Gebüsch und
Riedgras. In einiger Entfernung hört man den
Fluß rauschen.
-
- Moritz
- Besser ist besser. - Ich
passe nicht hinein. Mögen sie einander auf die
Köpfe steigen. - Ich ziehe die Tür hinter mir
zu und trete ins Freie. - Ich gebe nicht so viel darum,
mich herumdrücken zu lassen.
-
- Ich habe mich nicht
aufgedrängt. Was soll ich mich jetzt
aufdrängen! - Ich habe keinen Vertrag mit dem lieben
Gott. Mag man die Sache drehen, wie man sie drehen will.
Man hat mich gepreßt. - Meine Eltern mache ich
nicht verantwortlich. Immerhin mußten sie auf das
Schlimmste gefaßt sein. Sie waren alt genug, um zu
wissen, was sie taten. Ich war ein Säugling, als ich
zur Welt kam - sonst wäre ich wohl auch noch so
schlau gewesen, ein anderer zu werden. - Was soll ich
dafür büßen, daß alle andern schon
da waren!
-
- Ich müßte ja
auf den Kopf gefallen sein... macht mir jemand einen
tollen Hund zum Geschenk, dann gebe ich ihm seinen tollen
Hund zurück. Und will er seinen tollen Hund nicht
zurücknehmen, dann bin ich menschlich und... Ich
müßte ja auf den Kopf gefallen
sein!
-
- Man wird ganz per Zufall
geboren und sollte nicht nach reiflichster
Überlegung - - - es ist zum Totschießen! - Das
Wetter zeigte sich wenigstens rücksichtsvoll. Den
ganzen Tag sah es nach Regen aus, und nun hat es sich
doch gehalten. - Es herrscht eine seltene Ruhe in der
Natur. Nirgends etwas Grelles, Aufreizendes. Himmel und
Erde sind wie durchsichtiges Spinnewebe. Und dabei
scheint sich alles so wohl zu fühlen. Die Landschaft
ist lieblich wie eine Schlummermelodie - "schlafe, mein
Prinzchen, schlaf ein", wie Fräulein Snandulia sang.
Schade, daß sie die Ellbogen ungraziös
hält! - Am Cäcilienfest habe ich zum letzten
Male getanzt. Snandulia tanzt nur mit Partien. Ihre
Seidenrobe war hinten und vorn ausgeschnitten. Hinten bis
auf den Taillengürtel und vorne bis zur
Bewußtlosigkeit. -
- Ein Hemd kann sie nicht
angehabt haben... - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
- - - - - - - - - - - - -
- Das wäre etwas, was
mich noch fesseln könnte. - Mehr der Kuriosität
halber. - Es muß ein sonderbares Empfinden sein - -
ein Gefühl, als würde man über
Stromschnellen gerissen - - - Ich werde es niemandem
sagen, daß ich unverrichteter Sache wiederkehre.
Ich werde so tun, als hätte ich alles das
mitgemacht... Es hat etwas Beschämendes, Mensch
gewesen zu sein, ohne das Menschlichste kennengelernt zu
haben. - Sie kommen aus Ägypten, verehrter Herr, und
haben die Pyramiden nicht gesehen?!
-
- Ich will heute nicht
wieder weinen. Ich will nicht wieder an mein
Begräbnis denken - - Melchior wird mir einen Kranz
auf den Sarg legen. Pastor Kahlbauch wird meine Eltern
trösten. Rektor Sonnenstich wird Beispiele aus der
Geschichte zitieren. - Einen Grabstein werd' ich
wahrscheinlich nicht bekommen. Ich hätte mir eine
schneeweiße Marmorurne auf schwarzem Syenitsockel
gewünscht - ich werde sie ja gottlob nicht
vermissen. Die Denkmäler sind für die Lebenden,
nicht für die Toten.
-
- Ich brauchte wohl ein
Jahr, um in Gedanken von allen Abschied zu nehmen. Ich
will nicht wieder weinen. Ich bin froh, ohne Bitterkeit
zurückblicken zu dürfen. Wie manchen
schönen Abend ich mit Melchior verlebt habe! - unter
den Uferweiden; beim Forsthaus; am Heerweg draußen,
wo die fünf Linden stehen; auf dem Schloßberg,
zwischen den lauschigen Trümmern der Runenburg. - -
- Wenn die Stunde gekommen, will ich aus
Leibeskräften an Schlagsahne denken. Schlagsahne
hält nicht auf. Sie stopft und hinterläßt
dabei doch einen angenehmen Nachgeschmack... Auch die
Menschen hatte ich mir unendlich schlimmer gedacht. Ich
habe keinen gefunden, der nicht sein Bestes gewollt
hätte. Ich habe manchen bemitleidet um
meinetwillen.
-
- Ich wandle zum Altar wie
der Jüngling im alten Etrurien, dessen letztes
Röcheln der Brüder Wohlergehen für das
kommende Jahr erkauft. - Ich durchkoste Zug für Zug
die geheimnisvollen Schauer der Loslösung. Ich
schluchze vor Wehmut über mein Los. - Das Leben hat
mir die kalte Schulter gezeigt. Von drüben her sehe
ich ernste freundliche Blicke winken: die kopflose
Königin, die kopflose Königin - Mitgefühl,
mich mit weichen Armen erwartend... Eure Gebote gelten
für Unmündige; ich trage mein Freibillett in
mir. Sinkt die Schale, dann flattert der Falter davon;
das Trugbild geniert nicht mehr. - Ihr solltet kein
tolles Spiel mit dem Schwindel treiben! Der Nebel
zerrinnt; das Leben ist Geschmacksache.
-
- Ilse
- in abgerissenen
Kleidern, ein buntes Tuch um den Kopf, faßt ihn von
rückwärts an der Schulter
- Was hast du
verloren?
-
- Moritz
- Ilse?!
-
- Ilse
- Was suchst du
hier?
-
- Moritz
- Was erschreckst du mich
so?
-
- Ilse
- Was suchst du? - Was
hast du verloren?
-
- Moritz
- Was erschreckst du mich
denn so entsetzlich?
-
- Ilse
- Ich komme aus der Stadt.
Ich gehe nach Hause.
-
- Moritz
- Ich weiß nicht,
was ich verloren habe.
-
- Ilse
- Dann hilft auch dein
Suchen nichts.
-
- Moritz
- Sakerment,
Sakerment!!
-
- Ilse
- Seit vier Tagen bin ich
nicht zu Hause gewesen.
-
- Moritz
- Lautlos wie ein
Katze!
-
- Ilse
- Weil ich meine
Ballschuhe anhabe. - Mutter wird Augen machen - Komm bis
an unser Haus mit!
-
- Moritz
- Wo hast du wieder
herumgestrolcht?
-
- Ilse
- In der
Priapia!
-
- Moritz
- Priapia!
-
- Ilse
- Bei Nohl, bei
Fehrendorf, bei Padinsky, bei Lenz, Rank, Spühler -
bei allen möglichen! - Kling, kling - die wird
springen!
-
- Moritz
- Malen sie
dich?
-
- Ilse
- Fehrendorf malt mich als
Säulenheilige. Ich stehe auf einem korinthischen
Kapitäl. Fehrendorf, sag' ich dir, ist eine
verhauene Nudel. Das letzte Mal zertrat ich ihm eine
Tube. Er wischt mir die Pinsel ins Haar. Ich versetze ihm
eine Ohrfeige. Er wirft mir die Palette an den Kopf. Ich
werfe die Staffelei um. Er mit dem Malstock hinter mir
drein über Diwan, Tische, Stühle, ringsum
durchs Atelier. Hinterm Ofen lag eine Skizze: Brav sein,
oder ich zerreiße sie! - Er schwor Amnestie und hat
mich dann schließlich noch schrecklich -
schrecklich, sag' ich dir -
abgeküßt.
-
- Moritz
- Wo übernachtest du,
wenn du in der Stadt bleibst?
-
- Ilse
- Gestern waren wir bei
Nohl - vorgestern bei Bojokewitsch - Sonntag bei
Oikonomopulos. Bei Padinsky gab's Sekt. Valabregez hatte
seinen Pestkranken verkauft. Adolar trank aus dem
Aschenbecher. Lenz sang die Kindesmörderin, und
Adolar schlug die Gitarre krumm. Ich war so betrunken,
daß sie mich zu Bett bringen mußten. - - Du
gehst immer noch zur Schule, Moritz?
-
- Moritz
- Nein, nein dieses
Quartal nehme ich meine Entlassung.
-
- Ilse
- Du hast recht. Ach, wie
die Zeit vergeht, wenn man Geld verdient! - Weißt
du noch, wie wir Räuber spielten? -Wendla Bergmann
und du und ich und die andern, wenn ihr abends herauskamt
und kuhwarme Ziegenmilch bei uns trankt? - Was macht
Wendla? Ich sah sie noch bei der Überschwemmung. -
Was macht Melchi Gabor? - Schaut er noch so tiefsinnig
drein? - In der Singstunde standen wir einander
gegenüber.
-
- Moritz
- Er
philosophiert.
-
- Ilse
- Wendla war derweil bei
uns und hat der Mutter Eingemachtes gebracht. Ich
saß den Tag bei Isidor Landauer. Er braucht mich
zur heiligen Maria, Mutter Gottes, mit dem Christuskind.
Er ist ein Tropf und widerlich. Hu, wie ein Wetterhahn! -
Hast du Katzenjammer?
-
- Moritz
- Von gestern abend! - Wir
haben wie Nilpferde gezecht. Um fünf Uhr wankt' ich
nach Hause.
-
- Ilse
- Man braucht dich nur
anzusehen. - Waren auch Mädchen dabei?
-
- Moritz
- Arabella, die
Biernymphe, Andalusierin! - Der Wirt ließ uns alle
die ganze Nacht durch mit ihr allein...
-
- Ilse
- Man braucht dich nur
anzusehen, Moritz! - Ich kenne keinen Katzenjammer.
Vergangenen Karneval kam ich drei Tage und drei
Nächte in kein Bett und nicht aus den Kleidern. Von
der Redoute ins Café, mittags in Bellavista,
abends Tingl-Tangl, nachts zur Redoute. Lena war dabei
und die dicke Viola. - In der dritten Nacht fand mich
Heinrich.
-
- Moritz
- Hatte er dich denn
gesucht?
-
- Ilse
- Er war über meinen
Arm gestolpert. Ich lag bewußtlos im
Straßenschnee. - Darauf kam ich zu ihm. Vierzehn
Tage verließ ich seine Behausung nicht - ein
greuliche Zeit! - Morgens mußte ich seinen
persischen Schlafrock überwerfen und abends in
schwarzem Pagenkostüm durchs Zimmer gehn; an Hals,
an Knien und Ärmeln weiße
Spitzenaufschläge. Täglich fotografierte er
mich in anderem Arrangement - einmal auf der Sofalehne
als Ariadne, einmal als Leda, einmal als Ganymed, einmal
auf allen vieren als weiblichen Nebuchod-Nosor. Dabei
schwärmte er von Umbringen, von Erschießen,
Selbstmord und Kohlendampf. Frühmorgens nahm er eine
Pistole ins Bett, lud sie voll Spitzkugeln und setzte sie
mir auf die Brust: Ein Zwinkern, so drück' ich! -
Oh, er hätte gedrückt, Moritz, er hätte
gedrückt! - Dann nahm er das Dings in den Mund wie
ein Pustrohr. Das wecke den Selbsterhaltungstrieb. Und
dann - brrr - die Kugel wäre mir durchs
Rückgrat gegangen.
-
- Moritz
- Lebt Heinrich
noch?
-
- Ilse
- Was weiß ich! -
über dem Bett war ein Deckenspiegel im Plafond
eingelassen. Das Kabinett schien turmhoch und hell wie
ein Opernhaus. Man sah sich leibhaftig vom Himmel
herunterhängen. Grauenvoll habe ich die Nächte
geträumt. - Gott, o Gott, wenn es erst wieder Tag
würde! - Gute Nacht, Ilse. Wenn du schläfst,
bist du zum Morden schön!
-
- Moritz
- Lebt dieser Heinrich
noch?
-
- Ilse
- So Gott will, nicht! -
Wie er eines Tages Absinth holt, werfe ich den Mantel um
und schleiche mich auf die Straße. Der Fasching war
aus; die Polizei fängt mich ab; was ich in
Mannskleidern wolle? - Sie brachten mich zur Hauptwache.
Da kamen Nohl, Fehrendorf, Padinsky, Spühler,
Oikonomopulos, die ganze Priapia, und bürgten
für mich. Im Fiaker transportierten sie mich auf
Adolars Atelier. Seither bin ich der Horde treu.
Fehrendorf ist ein Affe, Nohl ist ein Schwein,
Bojokewitsch ein Uhu, Loison eine Hyäne,
Oikonomopulos ein Kamel - darum lieb' ich sie doch, einen
wie den andern und möchte mich an sonst niemand
hängen, und wenn die Welt voll Erzengel und
Millionäre wär!
-
- Moritz
- Ich muß
zurück, Ilse.
-
- Ilse
- Komm bis an unser Haus
mit!
-
- Moritz
- Wozu? - Wozu
-
-
- Ilse
- Kuhwarme Ziegenmilch
trinken! - Ich will dir Locken brennen und dir ein
Glöcklein um den Hals hängen. - Wir haben auch
noch ein Hü-Pferdchen, mit dem du spielen
kannst.
-
- Moritz
- Ich muß
zurück. - Ich habe noch die Sassaniden, die
Bergpredigt und das Parallelepipedon auf dem Gewissen -
Gute Nacht, Ilse!
-
- Ilse
- Schlummre
süß!... Geht ihr wohl noch zum Wigwam
hinunter, wo Melchi Gabor meinen Tomahawk begrub? - Brrr!
Bis es an euch kommt, lieg' ich im Kehricht.
- Eilt
davon.
-
- Moritz
- allein - - -
- Ein Wort hätte es
gekostet.
-
- Er ruft -
- Ilse! - Ilse! - -
Gottlob, sie hört nicht mehr.
-
- - Ich bin in der
Stimmung nicht. - Dazu bedarf es eines freien Kopfes und
eines fröhlichen Herzens. - Schade, schade um die
Gelegenheit!
-
- ... ich werde sagen, ich
hätte mächtige Kristallspiegel über meinen
Betten gehabt - hätte mir ein unbändiges
Füllen gezogen - hätte es in langen
schwarzseidenen Strümpfen und schwarzen Lackstiefeln
und schwarzen, langen Glacéhandschuhen, schwarzen
Samt um den Hals, über den Teppich an mir
vorbeistolzieren lassen - hätte es in einem
Wahnsinnsanfall in meinem Kissen erwürgt... ich
werde lächeln, wenn von Wollust die Rede ist... ich
werde - Aufschreien! - Aufschreien! - Du sein, Ilse! -
Priapia! - Besinnungslosigkeit! - Das nimmt die Kraft
mir! - Dieses Glückskind, dieses Sonnenkind - dieses
Freudenmädchen auf meinem Jammerweg! - - O! -
O!
-
- - - - - - - - - - - - -
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
-
- Im
Ufergebüsch.
-
- Hab' ich sie doch
unwillkürlich wiedergefunden - die Rasenbank. Die
Königskerzen scheinen gewachsen seit gestern. Der
Ausblick zwischen den Weiden durch ist derselbe noch. -
Der Fluß zieht schwer wie geschmolzenes Blei. -
Daß ich nicht vergesse... er zieht Frau Gabors
Brief aus der Tasche und verbrennt ihn. - Wie die Funken
irren - hin und her, kreuz und quer - Seelen! -
Sternschnuppen! -
-
- Eh ich angezündet,
sah man die Gräser noch und einen Streifen am
Horizont. - Jetzt ist es dunkel geworden. Jetzt gehe ich
nicht mehr nach Hause.
-
-
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