20.
Jahrhundert
19.
Jahrhundert
Spätromantik
Wedekind
Biographie
Werke
Inhaltsangabe
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Frank
Wedekind:
Frühlings Erwachen, 3. Akt, 1.
Szene
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-
- Konferenzzimmer. - An
den Wänden die Bildnisse von Pestalozzi und
J. J. Rousseau. Um einen grünen Tisch,
über dem mehrere Gasflammen brennen, sitzen die
Professoren Affenschmalz, Knüppeldick, Hungergurt,
Knochenbruch, Zungenschlag und Fliegentod. Am oberen Ende
auf erhöhtem Sessel Rektor Sonnenstich. Pedell
<
Hausmeister>
Habebald kauert neben der Tür.
-
- Sonnenstich
- ... Sollte einer der
Herren noch etwas zu bemerken haben? - - Meine Herren! -
Wenn wir nicht umhinkönnen, bei einem hohen
Kultusministerium die Relegation
< den
Schulverweis>
unseres schuldbeladenen Schülers zu beantragen, so
können wir das aus den schwerwiegendsten
Gründen nicht. Wir können es nicht, um das
bereits hereingebrochene Unglück zu sühnen, wir
können es ebensowenig, um unsere Anstalt für
die Zukunft vor ähnlichen Schlägen
sicherzustellen. Wir können es nicht, um unsern
schuldbeladenen Schüler für den
demoralisierenden Einfluß, den er auf seinen
Klassengenossen ausgeübt, zu züchtigen; wir
können es zuallerletzt, um ihn zu verhindern, den
nämlichen Einfluß auf seine übrigen
Klassengenossen auszuüben. Wir können es - und
der, meine Herren, möchte der schwerwiegendste sein
- aus dem jeden Einwand niederschlagenden Grunde nicht,
weil wir unsere Anstalt vor den Verheerungen einer
Selbstmordepidemie zu schützen haben, wie sie
bereits an verschiedenen Gymnasien zum Ausbruch gelangt
und bis heute allen Mitteln, den Gymnasiasten an seine
durch seine Heranbildung zum Gebildeten gebildeten
Existenzbedingungen zu fesseln, gespottet hat. Sollte
einer der Herren noch etwas zu bemerken
haben?
-
- Knüppeldick
- Ich kann mich nicht
länger der Überzeugung verschließen,
daß es endlich an der Zeit wäre, irgendwo ein
Fenster zu öffnen.
-
- Zungenschlag
- Es he-herrscht hier ein
A-A-Atmosphäre wie in unterirdischen
Kata-Katakomben, wie in den A-Aktensälen des weiland
Wetzlarer Ka-Ka-Ka-Ka-Kammergerichtes.
-
- Sonnenstich
- Habebald!
-
- Habebald
- Befehlen, Herr
Rektor!
-
- Sonnenstich
- Öffnen Sie ein
Fenster! Wir haben Gott sei Dank Atmosphäre genug
draußen. - Sollte einer der Herren noch etwas zu
bemerken haben?
-
- Fliegentod
- Wenn meine Herren
Kollegen ein Fenster öffnen lassen wollen, so habe
ich meinerseits nichts dagegen einzuwenden. Nur
möchte ich bitten, das Fenster nicht gerade hinter
meinem Rücken öffnen lassen zu
wollen!
-
- Sonnenstich
- Habebald!
-
- Habebald
- Befehlen, Herr
Rektor!
-
- Sonnenstich
- Öffnen Sie das
andere Fenster! - - Sollte einer der Herren noch etwas zu
bemerken haben?
-
- Hungergurt
- Ohne die Kontroverse
meinerseits belasten zu wollen, möchte ich an die
Tatsache erinnern, daß das andere Fenster seit den
Herbstferien zugemauert ist.
-
- Sonnenstich
- Habebald!
-
- Habebald
- Befehlen, Herr
Rektor!
-
- Sonnenstich
- Lassen Sie das andere
Fenster geschlossen! - Ich sehe mich genötigt, meine
Herren, den Antrag zur Abstimmung zu bringen. Ich ersuche
diejenigen Herren Kollegen, die dafür sind,
daß das einzig in Frage kommen könnende
Fenster geöffnet werde, sich von ihren Sitzen zu
erheben. Er zählt. - Eins, zwei, drei. Eins, zwei,
drei. - Habebald!
-
- Habebald
- Befehlen, Herr
Rektor!
-
- Sonnenstich
- Lassen Sie das eine
Fenster gleichfalls geschlossen! - Ich meinerseits hege
die Überzeugung, daß die Atmosphäre
nichts zu wünschen übrigläßt! - -
Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben? - -
Meine Herren! - Setzen wir den Fall, daß wir die
Relegation unseres schuldbeladenen Schülers bei
einem hohen Kultusministerium zu beantragen unterlassen,
so wird uns ein hohes Kultusministerium für das
hereingebrochene Unglück verantwortlich machen. Von
den verschiedenen von der Selbstmord-Epidemie
heimgesuchten Gymnasien sind diejenigen, in denen
fünfundzwanzig Prozent den Verheerungen zum Opfer
gefallen, von einem hohen Kultusministerium suspendiert
worden. Vor diesem erschütterndsten Schlage unsere
Anstalt zu bewahren, ist unsere Pflicht als Hüter
und Bewahrer unserer Anstalt. Es schmerzt uns tief, meine
Herren Kollegen, daß wir die sonstige Qualifikation
unseres schuldbeladenen Schülers als mildernden
Umstand gelten zu lassen nicht in der Lage sind. Ein
nachsichtiges Verfahren, das sich unserem schuldbeladenen
Schüler gegenüber rechtfertigen ließe,
ließe sich der zur Zeit in denkbar bedenklichster
Weise gefährdeten Existenz unserer Anstalt
gegenüber nicht rechtfertigen. Wir sehen uns in die
Notwendigkeit versetzt, den Schuldbeladenen zu richten,
um nicht als die Schuldlosen gerichtet zu werden. -
Habebald!
-
- Habebald
- Befehlen, Herr
Rektor!
-
- Sonnenstich
- Führen Sie ihn
herauf!
-
- Habebald
ab.
-
- Zungenschlag
- Wenn die he-herrschende
A-A-A-Atmosphäre maßgebenderseits wenig oder
nichts zu wünschen übrigläßt, so
möchte ich den Antrag stellen, während der
So-Sommerferien auch noch das andere Fenster
zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zuzumauern!
-
- Fliegentod
- Wenn unserem lieben
Kollega Zungenschlag unser Lokal nicht genügend
ventiliert erscheint, so möchte ich den Antrag
stellen, unserm lieben Herrn Kollega Zungenschlag einen
Ventilator in die Stirnhöhle applizieren zu
lassen.
-
- Zungenschlag
- Da-Da-das brauche ich
mir nicht gefallen zu lassen! - Gro-Grobheiten brauche
ich mir nicht gefallen zu lassen! Ich bin meiner
fü-fü-fü-fü-fünf Sinne
mächtig...!
-
- Sonnenstich
- Ich muß unsere
Herren Kollegen Fliegentod und Zungenschlag um einigen
Anstand ersuchen. Unser schuldbeladener Schüler
scheint mir bereits auf der Treppe zu sein.
-
- Habebald öffnet
die Türe, worauf Melchior, bleich, aber
gefaßt, vor die Versammlung tritt.
-
- Sonnenstich
- Treten Sie näher an
den Tisch heran! - Nachdem Herr Rentier Stiefel von dem
ruchlosen Frevel seines Sohnes Kenntnis erhalten,
durchsuchte der fassungslose Vater, in der Hoffnung, auf
diesem Wege möglicherweise dem Anlaß der
verabscheuungswürdigen Untat auf die Spur zu kommen,
die hinterlassenen Effekten seines Sohnes Moritz und
stieß dabei an einem nicht zur Sache gehörigen
Orte auf ein Schriftstück, welches uns, ohne noch
die verabscheuungswürdige Untat an sich
verständlich zu machen, für die dabei
maßgebend gewesene moralische Zerrüttung des
Untäters eine leider nur allzu ausreichende
Erklärung liefert. Es handelt sich um eine in
Gesprächsform abgefaßte, "Der
Beischlaf"
betitelte, mit lebensgroßen Abbildungen versehene,
von den schamlosesten Unflätereien strotzende,
zwanzig Seiten lange Abhandlung, die den geschraubtesten
Anforderungen, die ein verworfener Lüstling an eine
unzüchtige Lektüre zu stellen vermöchte,
entsprechen dürfte. -
-
- Melchior
- Ich habe...
-
- Sonnenstich
- Sie haben sich ruhig zu
verhalten! - Nachdem Herr Rentier Stiefel uns fragliches
Schriftstück ausgehändigt und wir dem
fassungslosen Vater das Versprechen erteilt, um jeden
Preis den Autor zu ermitteln, wurde die uns vorliegende
Handschrift mit den Handschriften sämtlicher
Mitschüler des weiland Ruchlosen verglichen und
ergab nach dem einstimmigen Urteil der gesamten
Lehrerschaft sowie in vollkommenem Einklang mit dem
Spezial-Gutachten unseres geschätzten Herrn Kollegen
für Kalligraphie die denkbar bedenklichste
Ähnlichkeit mit der Ihrigen. -
-
- Melchior
- Ich habe...
-
- Sonnenstich
- Sie haben sich ruhig zu
verhalten! - Ungeachtet der erdrückenden Tatsache
der von seiten unantastbarer Autoritäten anerkannten
Ähnlichkeit glauben wir uns vorderhand noch jeder
weiteren Maßnahmen enthalten zu dürfen, um in
erster Linie den Schuldigen über das ihm
demgemäß zur Last fallende Vergehen wider die
Sittlichkeit in Verbindung mit daraus resultierender
Veranlassung zur Selbstentleibung ausführlich zu
vernehmen.
-
- Melchior
- Ich habe...
-
- Sonnenstich
- Sie haben die genau
präzisierten Fragen, die ich Ihnen der Reihe nach
vorlege, eine um die andere, mit einem schlichten und
bescheidenen "Ja" oder "Nein" zu beantworten.
Habebald!
-
- Habebald
- Befehlen, Herr
Rektor!
-
- Sonnenstich
- Die Akten! - - Ich
ersuche unseren Schriftführer, Herrn Kollega
Fliegentod, von nun an möglichst wortgetreu zu
protokollieren.
-
- Zu Melchior
-
- Kennen Sie dieses
Schriftstück?
-
- Melchior
- Ja.
-
- Sonnenstich
- Wissen Sie, was dieses
Schriftstück enthält?
-
- Melchior
- Ja.
-
- Sonnenstich
- Ist die Schrift dieses
Schriftstücks die Ihrige?
-
- Melchior
- Ja.
-
- Sonnenstich
- Verdankt dieses
unflätige Schriftstück Ihnen seine
Abfassung?
-
- Melchior
- Ja. - Ich ersuche Sie,
Herr Rektor, mir eine Unflätigkeit darin
nachzuweisen.
-
- Sonnenstich
- Sie haben die genau
präzisierten Fragen, die ich Ihnen vorlege, mit
einem schlichten und bescheidenen "Ja" oder "Nein" zu
beantworten!
-
- Melchior
- Ich habe nicht mehr und
nicht weniger geschrieben, als was eine Ihnen sehr
wohlbekannte Tatsache ist!
-
- Sonnenstich
- Dieser
Schandbube!!
-
- Melchior
- Ich ersuche Sie, mir
einen Verstoß gegen die Sittlichkeit in der Schrift
zu zeigen!
-
- Sonnenstich
- Bilden Sie sich ein, ich
hätte Lust, zu Ihrem Hanswurst an Ihnen zu werden?!
- Habebald...
-
- Melchior
- Ich habe...
-
- Sonnenstich
- Sie haben so wenig
Ehrerbietung vor der Würde Ihrer versammelten
Lehrerschaft, wie Sie Anstandsgefühl für das
dem Menschen eingewurzelte Empfinden für die
Diskretion der Verschämtheit einer sittlichen
Weltordnung haben! - Habebald!!
-
- Habebald
- Befehlen, Herr
Rektor!
-
- Sonnenstich
- Es ist ja der
Langenscheidt zur dreistündigen Erlernung des
agglutinierenden Volapük!
-
- Melchior
- Ich habe...
-
- Sonnenstich
- Ich ersuche unseren
Schriftführer, Herrn Kollega Fliegentod, das
Protokoll zu schließen!
-
- Melchior
- Ich habe...
-
- Sonnenstich
- Sie haben sich ruhig zu
verhalten!! - Habebald!
-
- Habebald
- Befehlen, Herr
Rektor!
-
- Sonnenstich
- Führen Sie ihn
hinunter!
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