20.
Jahrhundert
19.
Jahrhundert
Spätromantik
Wedekind
Biographie
Werke
Inhaltsangabe
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Frank
Wedekind :
Frühlings Erwachen, 1. Akt, 5.
Szene
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-
- Sonniger Nachmittag.
- Melchior und Wendla begegnen einander im
Wald.
-
- Melchior
- Bist du's wirklich,
Wendla? - Was tust denn du so allein hier oben? - Seit
drei Stunden durchstreife ich den Wald die Kreuz und
Quer, ohne daß mir eine Seele begegnet, und nun
plötzlich trittst du mir aus dem dichtesten Dickicht
entgegen!
-
- Wendla
- Ja, ich
bin's.
-
- Melchior
- Wenn ich dich nicht als
Wendla Bergmann kennte, ich hielte dich für eine
Dryade, die aus den Zweigen gefallen.
-
- Wendla
- Nein, nein, ich bin
Wendla Bergmann. - Wo kommst denn du her?
-
- Melchior
- Ich gehe meinen Gedanken
nach.
-
- Wendla
- Ich suchte Waldmeister.
Mama will Maitrank bereiten. Anfangs wollte sie selbst
mitgehen, aber im letzten Augenblick kam Tante Bauer
noch, und die steigt nicht gern. - So bin ich denn allein
herauf gekommen.
-
- Melchior
- Hast du deinen
Waldmeister schon?
-
- Wendla
- Den ganzen Korb voll.
Drüben unter den Buchen steht er dicht wie
Mattenklee <Kleewiese>
. - Jetzt sehe ich mich nämlich nach einem Ausweg
um. Ich scheine mich verirrt zu haben. Kannst du mir
vielleicht sagen, wieviel Uhr es ist?
-
- Melchior
- Eben halb vier vorbei. -
Wann erwartet man dich?
-
- Wendla
- Ich glaubte, es
wäre später. Ich lag eine ganze Weile am
Goldbach im Moose und habe geträumt. Die Zeit
verging mir so rasch; ich fürchtete, es wolle schon
Abend werden.
-
- Melchior
- Wenn man dich noch nicht
erwartet, dann laß uns hier noch ein wenig lagern.
Unter der Eiche dort ist mein Lieblingsplätzchen.
Wenn man den Kopf an den Stamm zurücklehnt und durch
die Äste in den Himmel starrt, wird man
hypnotisiert. Der Boden ist noch warm von der
Morgensonne. - Schon seit Wochen wollte ich dich etwas
fragen, Wendla.
-
- Wendla
- Aber vor fünf
muß ich zu Hause sein.
-
- Melchior
- Wir gehen dann zusammen.
Ich nehme den Korb, und wir schlagen den Weg durch die
Runse <ausgewaschener
Weg am Hang> ein,
so sind wir in zehn Minuten schon auf der Brücke! -
Wenn man so daliegt, die Stirn in die Hand gestützt,
kommen einem die sonderbarsten Gedanken...
-
- Beide lagern sich
unter der Eiche.
-
- Wendla
- Was wolltest du mich
fragen,Melchior?
-
- Melchior
- Ich habe gehört,
Wendla, du gehest häufig zu armen Leuten. Du
brächtest ihnen Essen, auch Kleider und Geld. Tust
du das aus eigenem Antriebe, oder schickt deine Mutter
dich?
-
- Wendla
- Meistens schickt mich
die Mutter. Es sind arme Taglöhnerfamilien, die eine
Unmenge Kinder haben. Oft findet der Mann keine Arbeit,
dann frieren und hungern sie. Bei uns liegt aus
früherer Zeit noch so mancherlei in Schränken
und Kommoden, das nicht mehr gebraucht wird. Aber wie
kommst du darauf?
-
- Melchior
- Gehst du gern oder
ungern, wenn deine Mutter dich so wohin
schickt?
-
- Wendla
- O für mein Leben
gern! Wie kannst du fragen!
-
- Melchior
- Aber die Kinder sind
schmutzig, die Frauen sind krank, die Wohnungen strotzen
von Unrat, die Männer hassen dich, weil du nicht
arbeitest...
-
- Wendla
- Das ist nicht wahr,
Melchior. Und wenn es wahr wäre, ich würde erst
recht gehen!
-
- Melchior
- Wieso erst recht,
Wendla?
-
- Wendla
- Ich würde erst
recht hingehen. - Es würde mir noch viel mehr Freude
bereiten, ihnen helfen zu können.
-
- Melchior
- Du gehst also um deiner
Freude willen zu den armen Leuten?
-
- Wendla
- Ich gehe zu ihnen, weil
sie arm sind.
-
- Melchior
- Aber wenn es dir keine
Freude wäre, würdest du nicht
gehen?
-
- Wendla
- Kann ich denn
dafür, daß es mir Freude macht?
-
- Melchior
- Und doch sollst du
dafür in den Himmel kommen! - So ist es also
richtig, was mir nun seit einem Monat keine Ruhe mehr
läßt! - Kann der Geizige dafür, daß
es ihm keine Freude macht, zu schmutzigen kranken Kindern
zu gehen?
-
- Wendla
- O dir würde es
sicher die größte Freude sein!
-
- Melchior
- Und doch soll er
dafür des ewigen Todes sterben! - Ich werde eine
Abhandlung schreiben und sie Herrn Pastor Kahlbauch
einschicken. Er ist die Veranlassung. Was faselt er uns
von Opferfreudigkeit! - Wenn er mir nicht antworten kann,
gehe ich nicht mehr in die Kinderlehre und lasse mich
nicht konfirmieren.
-
- Wendla
- Warum willst du deinen
lieben Eltern den Kummer bereiten! Laß dich doch
konfirmieren; den Kopf kostet's doch nicht. Wenn unsere
schrecklichen weißen Kleider und eure Schlepphosen
nicht wären, würde man sich vielleicht noch
dafür begeistern können!
-
- Melchior
- Es gibt keine
Aufopferung! Es gibt keine Selbstlosigkeit! - Ich sehe
die Guten sich ihres Herzens freun, sehe die Schlechten
beben und stöhnen - ich sehe dich, Wendla Bergmann,
deine Locken schütteln und lachen, und mir wird so
ernst dabei wie einem Geächteten. - - Was hast du
vorhin geträumt, Wendla, als du am Goldbach im Grase
lagst?
-
- Wendla
- - - Dummheiten -
Narreteien -
-
- Melchior
- Mit offenen
Augen?!
-
- Wendla
- Mir träumte, ich
wäre ein armes, armes Bettelkind, ich würde
früh fünf schon auf die Straße geschickt,
ich müßte betteln den ganzen langen Tag in
Sturm und Wetter, unter hartherzigen, rohen Menschen. Und
käm' ich abends nach Hause, zitternd vor Hunger und
Kälte, und hätte so viel Geld nicht, wie mein
Vater verlangt, dann würd' ich geschlagen -
geschlagen -
-
- Melchior
- Das kenne ich, Wendla.
Das hast du den albernen Kindergeschichten zu danken.
Glaub' mir, so brutale Menschen existieren nicht
mehr.
-
- Wendla
- O doch, Melchior, du
irrst. - Martha Bessel wird Abend für Abend
geschlagen, daß man anderntags Striemen sieht. O
was die leiden muß! Siedendheiß wird es
einem, wenn sie erzählt. Ich bedaure sie so
furchtbar, ich muß oft mitten in der Nacht in die
Kissen weinen. Seit Monaten denke ich darüber nach,
wie man ihr helfen kann. - Ich wollte mit Freuden einmal
acht Tage an ihrer Stelle sein.
-
- Melchior
- Man sollte den Vater
kurzweg verklagen. Dann würde ihm das Kind
weggenommen.
-
- Wendla
- Ich, Melchior, bin in
meinem Leben nie geschlagen worden - nicht ein einziges
Mal. Ich kann mir kaum denken, wie das tut, geschlagen zu
werden. Ich habe mich schon selber geschlagen, um zu
erfahren, wie einem dabei ums Herz wird. - Es muß
ein grauenvolles Gefühl sein.
-
- Melchior
- Ich glaube nicht,
daß je ein Kind dadurch besser wird.
-
- Wendla
- Wodurch besser
wird?
-
- Melchior
- Daß man es
schlägt.
-
- Wendla
- Mit dieser Gerte zum
Beispiel! - Hu, ist die zäh und
dünn!
-
- Melchior
- Die zieht
Blut!
-
- Wendla
- Würdest du mich
nicht einmal damit schlagen?
-
- Melchior
- Wen?
-
- Wendla
- Mich.
-
- Melchior
- Was fällt dir
ein,Wendla!
-
- Wendla
- Was ist denn
dabei?
-
- Melchior
- O sei ruhig! - Ich
schlage dich nicht.
-
- Wendla
- Wenn ich dir's doch
erlaube!
-
- Melchior
- Nie,
Mädchen!
-
- Wendla
- Aber wenn ich dich darum
bitte,Melchior!
-
- Melchior
- Bist du nicht bei
Verstand?
-
- Wendla
- Ich bin in meinem Leben
nie geschlagen worden!
-
- Melchior
- Wenn du um so etwas
bitten kannst...
-
- Wendla
- Bitte - bitte
-
-
- Melchior
- Ich will dich bitten
lehren! -
- Er schlägt
sie.
-
- Wendla
- Ach Gott - ich
spüre nicht das geringste!
-
- Melchior
- Das glaub ich dir - -
durch all deine Röcke durch...
-
- Wendla
- So schlag mich doch an
die Beine!
-
- Melchior
- Wendla!
- Er schlägt sie
stärker.
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- Wendla
- Du streichelst mich ja!
- Du streichelst mich!
-
- Melchior
- Wart, Hexe, ich will dir
den Satan austreiben!
-
- Er wirft den Stock
beiseite und schlägt derart mit den Fäusten
drein, daß sie in ein fürchterliches Geschrei
ausbricht. Er kehrt sich nicht daran, sondern drischt wie
wütend auf sie los, während ihm die dicken
Tränen über die Wangen rinnen. Plötzlich
springt er empor, faßt sich mit beiden Händen
an die Schläfen und stürzt, aus tiefster Seele
jammervoll aufschluchzend, in den Wald
hinein.
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