20.
Jahrhundert
19.
Jahrhundert
Spätromantik
Wedekind
Biographie
Werke
Inhaltsangabe
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Frank
Wedekind:
Frühlings Erwachen, 2. Akt, 5.
Szene
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- Frau Gabor sitzt,
schreibt
-
- Lieber Herr
Stiefel!
-
- Nachdem ich 24 Stunden
über alles, was Sie mir schreiben, nachgedacht und
wieder nachgedacht, ergreife ich schweren Herzens die
Feder. Den Betrag zur Überfahrt nach Amerika kann
ich Ihnen - ich gebe Ihnen meine heiligste Versicherung -
nicht verschaffen. Erstens habe ich so viel nicht zu
meiner Verfügung, und zweitens, wenn ich es
hätte, wäre es die denkbar größte
Sünde, Ihnen die Mittel zur Ausführung einer so
folgenschweren Unbedachtsamkeit an die Hand zu geben.
Bitter Unrecht würden Sie mir tun, Herr Stiefel, in
dieser Weigerung ein Zeichen mangelnder Liebe zu
erblicken. Es wäre umgekehrt die gröbste
Verletzung meiner Pflicht als mütterliche Freundin,
wollte ich mich durch Ihre momentane Fassungslosigkeit
dazu bestimmen lassen, nun auch meinerseits den Kopf zu
verlieren und meinen ersten nächstliegenden Impulsen
blindlings nachzugeben. Ich bin gern bereit - falls Sie
es wünschen - an Ihre Eltern zu schreiben. Ich werde
Ihre Eltern davon zu überzeugen suchen, daß
Sie im Laufe dieses Quartals getan haben, was Sie tun
konnten, daß Sie Ihre Kräfte erschöpft,
derart, daß eine rigorose Beurteilung Ihres
Geschickes nicht nur ungerechtfertigt wäre, sondern
in erster Linie im höchsten Grade nachteilig auf
Ihren geistigen und körperlichen Gesundheitszustand
wirken könnte.
-
- Daß Sie mir
andeutungsweise drohen, im Fall Ihnen die Flucht nicht
ermöglicht wird, sich das Leben nehmen zu wollen,
hat mich, offen gesagt, Herr Stiefel, etwas befremdet.
Sei ein Unglück noch so unverschuldet, man sollte
sich nie und nimmer zur Wahl unlauterer Mittel
hinreißen lassen. Die Art und Weise, wie Sie mich,
die ich ihnen stets nur Gutes erwiesen, für einen
eventuellen entsetzlichen Frevel Ihrerseits
verantwortlich machen wollen, hat etwas, das in den Augen
eines schlechtdenkenden Menschen gar zu leicht zum
Erpressungsversuch werden könnte. Ich muß
gestehen, daß ich mir dieses Vorgehen von Ihnen,
der Sie doch sonst so gut wissen, was man sich selber
schuldet, zuallerletzt gewärtig gewesen wäre.
Indessen hege ich die feste Überzeugung, daß
Sie noch zu sehr unter dem Eindruck des ersten Schreckens
standen, um sich Ihrer Handlungsweise vollkommen
bewußt werden zu können.
-
- Und
so hoffe ich denn auch zuversichtlich, daß diese
meine Worte sie bereits in gefaßterer
Gemütsstimmung antreffen. Nehmen Sie die Sache, wie
sie liegt. Es ist meiner Ansicht nach durchaus
unzulässig, einen jungen Mann nach seinen
Schulzeugnissen zu beurteilen. Wir haben zu viele
Beispiele, daß sehr schlechte Schüler
vorzügliche Menschen geworden und umgekehrt
ausgezeichnete Schüler sich im Leben nicht
sonderlich bewährt haben. Auf jeden Fall gebe ich
Ihnen die Versicherung, daß Ihr Mißgeschick,
soweit das von mir abhängt, in Ihrem Verkehr mit
Melchior nichts ändern soll. Es wird mir stets zur
Freude gereichen, meinen Sohn mit einem jungen Manne
umgehn zu sehn, der sich, mag ihn nun die Welt
beurteilen, wie sie will, auch meine vollste Sympathie zu
gewinnen vermochte. Und somit Kopf hoch, Herr Stiefel! -
Solche Krisen dieser oder jener Art treten an jeden von
uns heran und wollen eben überstanden sein. Wollte
da ein jeder gleich zu Dolch und Gift greifen, es
möchte recht bald keine Menschen mehr auf der Welt
geben. Lassen Sie bald wieder etwas von sich hören
und seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen
unverändert zugetanen
-
- mütterlichen
Freundin Fanny G.
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