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- Einleitung
und Vorbereitung
Erzählung
des Schulmeisters Unterbrechung,
Trin' Jans Haukes
kommt zum Deichgrafen Haukes
Gespräch mit Elke Eisboseln und Ole Peters Eisboseln, Versöhnung mit Trine Tod
Tede Haiens, Haukes Erbteil Begräbnis und Nachfolge Hauke
als Deichgraf Das
Pferd von Jever Haukes
Schimmel Der
neue Deich Deichbau Nachwuchs
- „etwas lebigs -Wienke
Sturm
und Untergang
Materialien
Pappes Vorlage
Rungholt
Liliencrons Gedicht
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|
- Theodor
Storm
Der Schimmelreiter (Novelle, 1888) - 17. Sturm und Untergang
-
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- weiter
- Nach Neujahr war wieder einmal die
Sorge in das Haus getreten; ein Marschfieber hatte den
Deichgrafen ergriffen; auch mit ihm ging es nah am Rand
der Grube her, und als er unter Frau Elkes Pfleg und
Sorge wieder erstanden war, schien er kaum derselbe Mann.
Die Mattigkeit des Körpers lag auch auf seinem
Geiste, und Elke sah mit Besorgnis, wie er allzeit leicht
zufrieden war. Dennoch, gegen Ende des März,
drängte es ihn, seinen Schimmel zu besteigen und zum
ersten Male wieder auf seinem Deich entlangzureiten; es
war an einem Nachmittage, und die Sonne, die zuvor
geschienen hatte, lag längst schon wieder hinter
trübem Duft.
-
- Im Winter hatte es ein paarmal
Hochwasser gegeben; aber es war nicht von Belang gewesen;
nur drüben am andern Ufer war auf einer Hallig eine
Herde Schafe ertrunken und ein Stück vom Vorland
abgerissen worden; hier an dieser Seite und am neuen
Kooge war ein nennenswerter Schaden nicht geschehen. Aber
in der letzten Nacht hatte ein stärkerer Sturm
getobt, jetzt mußte der Deichgraf selbst hinaus und
alles mit eigenem Aug besichtigen. Schon war er unten von
der Südostecke aus auf dem neuen Deich
herumgeritten, und es war alles wohlerhalten;
(Reclam, S.
123) als er aber an die
Nordostecke gekommen war, dort, wo der neue Deich auf den
alten stößt, war zwar der erstere unversehrt,
aber wo früher der Priel den alten erreicht hatte
und an ihm entlanggeflossen war, sah er in großer
Breite die Grasnarbe zerstört und fortgerissen und
in dem Körper des Deiches eine von der Flut
gewühlte Höhlung, durch welche überdies
ein Gewirr von Mäusegängen bloßgelegt
war. Hauke stieg vom Pferde und besichtigte den Schaden
in der Nähe: das Mäuseunheil schien
unverkennbar noch unsichtbar weiter
fortzulaufen.
- Er erschrak heftig; gegen alles
dieses hätte schon beim Bau des neuen Deiches Obacht
genommen werden müssen; da es damals übersehen
worden, so mußte es jetzt geschehen! - Das Vieh war
noch nicht auf den Fennen, das Gras war ungewohnt
zurückgeblieben; wohin er blickte, es sah ihn leer
und öde an. Er bestieg wieder sein Pferd und ritt am
Ufer hin und her: es war Ebbe, und er gewahrte wohl, wie
der Strom von außen her sich wieder ein neues Bett
im Schlick gewühlt hatte und jetzt von Nordwesten
auf den alten Deich gestoßen war; der neue aber,
soweit es ihn traf, hatte mit seinem sanfteren Profile
dem Anprall widerstehen können.
-
- Ein Haufen neuer Plag und Arbeit
erhob sich vor der Seele des Deichgrafen; nicht nur der
alte Deich mußte hier verstärkt, auch dessen
Profil dem des neuen angenähert werden; vor allem
aber mußte der als gefährlich wieder
aufgetretene Priel durch neuzulegende Dämme oder
Lahnungen abgeleitet werden. Noch einmal ritt er auf dem
neuen Deich bis an die äußerste Nordwestecke,
dann wieder rückwärts, die Augen
unablässig auf das neugewühlte Bett des Priel
heftend, der ihm zur Seite sich deutlich genug in dem
bloßgelegten Schlickgrund abzeichnete. Der
(Reclam, S.
124) Schimmel drängte
vorwärts und schnob und schlug mit den Vorderhufen;
aber der Reiter drückte ihn zurück, er wollte
langsam reiten, er wollte auch die innere Unruhe
bändigen, die immer wilder in ihm
aufgor.
-
- Wenn eine Sturmflut
wiederkäme - eine wie 1655
dagewesen, wo Gut und Menschen ungezählt
verschlungen wurden -, wenn sie wiederkäme, wie sie
schon mehrmals einst gekommen war! - Ein heißer
Schauer überrieselte den Reiter - der alte Deich, er
würde den Stoß nicht aushalten, der gegen ihn
heraufschösse! Was dann, was sollte dann geschehen?
- Nur eines, ein einziges Mittel würde es geben, um
vielleicht den alten Koog und Gut und Leben darin zu
retten. Hauke fühlte sein Herz stillstehen, sein
sonst so fester Kopf schwindelte; er sprach es nicht aus,
aber in ihm sprach es stark genug: Dein Koog, der
Hauke-Haien-Koog müßte preisgegeben und der
neue Deich durchstochen werden!
-
- Schon sah er im Geist die
stürzende Hochflut hereinbrechen und Gras und Klee
mit ihrem salzen schäumenden Gischt bedecken. Ein
Sporenstich fuhr in die Weichen des Schimmels, und einen
Schrei ausstoßend, flog er auf dem Deich entlang
und dann den Akt hinab, der deichgräflichen Werfte
zu.
-
- Den Kopf voll von innerem Schrecknis
und ungeordneten Plänen, kam er nach Hause. Er warf
sich in seinen Lehnstuhl, und als Elke mit der Tochter in
das Zimmer trat, stand er wieder auf und hob das Kind zu
sich empor und küßte es; dann jagte er das
gelbe Hündlein mit ein paar leichten Schlägen
von sich. „Ich muß noch einmal droben nach
dem Krug!" sagte er und nahm seine Mütze vom
Türhaken, wohin er sie eben erst gehängt
hatte.
- Seine Frau sah ihn sorgvoll an: „Was
willst du dort? Es wird schon Abend, Hauke!"
- „Deichgeschichten!" murmelte
er vor sich hin, „ich treffe von den
Gevollmächtigten dort."
- Sie ging ihm nach und drückte
ihm die Hand, denn er war mit diesen Worten schon zur
Tür hinaus. Hauke Haien, der sonst alles bei sich
selber abgeschlossen hatte, drängte es jetzt, ein
Wort von jenen zu erhalten, die er sonst kaum eines
Anteils wertgehalten hatte. Im Gastzimmer traf er Ole
Peters mit zweien der Gevollmächtigten und einem
Koogseinwohner am Kartentisch.
-
- „Du kommst wohl von
draußen, Deichgraf?" sagte der erstere, nahm die
halb ausgeteilten Karten auf und warf sie wieder
hin.
- „Ja, Ole", erwiderte Hauke; „ich
war dort; es sieht übel aus."
- „Übel? - Nun, ein paar
hundert Soden und eine Bestickung wird's wohl kosten; ich
war dort am Nachmittag."
- „So wohlfeil wird's nicht
abgehen, Ole", erwiderte der Deichgraf, „der Priel
ist wieder da, und wenn er jetzt auch nicht von Norden
auf den alten Deich stößt, so tut er's doch
von Nordwesten!"
- „Du hättest ihn lassen
sollen, wo du ihn fandest!" sagte Ole
trocken.
- „Das heißt", entgegnete
Hauke, „der neue Koog geht dich nichts an; und
darum sollte er nicht existieren. Das ist deine eigne
Schuld! Aber wenn wir Lahnungen legen müssen, um den
alten Deich zu schützen, der grüne Klee hinter
dem neuen bringt das übermäßig
ein!"
- „Was sagt Ihr, Deichgraf?"
riefen die Gevollmächtigten; „Lahnungen? Wie
viele denn? Ihr liebt es, alles beim teuersten Ende
anzufassen!"
- Die Karten lagen unberührt auf
dem Tisch. „Ich will's dir sagen, Deichgraf",
sagte Ole Peters und stemmte beide Arme auf, „dein
neuer Koog ist ein fressend Werk, was du uns gestiftet
hast! Noch laboriert alles an den schweren Kosten deiner
breiten Deiche; nun frißt er uns auch den alten
Deich, und wir sollen ihn verneuen! - Zum Glück
ist's nicht so schlimm; er hat diesmal gehalten und wird
es auch noch ferner tun! Steig nur morgen wieder auf
deinen Schimmel und sieh es dir noch einmal
an!"
- Hauke war aus dem Frieden seines
Hauses hieher gekommen, hinter den immerhin noch
gemäßigten Worten, die er eben hörte, lag
- er konnte es nicht verkennen - ein zäher
Widerstand; ihm war, als fehle ihm dagegen noch die alte
Kraft. „Ich will tun, wie du rätst, Ole",
sprach er; „nur fürcht ich, ich werd es
finden, wie ich es heut gesehen habe."
-
- Eine unruhige Nacht folgte diesem
Tage; Hauke wälzte sich schlaflos in seinen Kissen. „Was
ist dir?" frug ihn Elke, welche die Sorge um ihren Mann
wach hielt; „drückt dich etwas, so sprich es
von dir; wir haben's ja immer so gehalten!"
- „Es hat nichts auf sich,
Elke!" erwiderte er, „am Deiche, an den Schleusen
ist was zu reparieren; du weißt, daß ich das
allzeit nachts in mir zu verarbeiten habe." Weiter sagte
er nichts; er wollte sich die Freiheit seines Handelns
vorbehalten; ihm unbewußt, war die klare Einsicht
und der kräftige Geist seines Weibes ihm in seiner
augenblicklichen Schwäche ein Hindernis, dem er
unwillkürlich auswich.
- - - Am folgenden Vormittag, als er
wieder auf den Deich hinauskam, war die Welt eine andere,
als wie er sie tags zuvor gefunden hatte; zwar war wieder
hohl Ebbe, aber der Tag war noch im Steigen, und eine
lichte Frühlingssonne ließ ihre Strahlen fast
senkrecht auf die unabsehbaren Watten fallen; die
weißen Möwen schwebten ruhig hin und wider,
und unsichtbar über ihnen, hoch unter dem azurblauen
Himmel, sangen die Lerchen ihre ewige Melodie. Hauke, der
nicht wußte, wie uns die Natur mit ihrem Reiz
betrügen kann, stand auf der Nordwestecke des
Deiches und suchte nach dem neuen Bett des Priels, das
ihn gestern so erschreckt hatte; aber bei dem vom Zenit
herabschießenden Sonnenlicht fand er es
anfänglich nicht einmal. Erst da er gegen die
blendenden Strahlen seine Augen mit der Hand beschattete,
konnte er es nicht verkennen; aber dennoch, die Schatten
in der gestrigen Dämmerung mußten ihn
getäuscht haben: es kennzeichnete sich jetzt nur
schwach; die bloßgelegte Mäusewirtschaft
mußte mehr als die Flut den Schaden in dem Deich
veranlaßt haben. Freilich, Wandel mußte hier
geschafft werden, aber durch sorgfältiges Aufgraben
und, wie Ole Peters gesagt hatte, durch frische Soden und
einige Ruten Strohbestickung war der Schaden
auszuheilen.
-
- „Es war so schlimm nicht",
sprach er erleichtert zu sich selber, „du bist
gestern doch dein eigner Narr gewesen!" - Er berief die
Gevollmächtigten, und die Arbeiten wurden ohne
Widerspruch beschlossen, was bisher noch nie geschehen
war. Der Deichgraf meinte eine stärkende Ruhe in
seinem noch geschwächten Körper sich verbreiten
zu fühlen, und nach einigen Wochen war alles sauber
ausgeführt.
-
- Das Jahr ging weiter, aber je weiter
es ging und je ungestörter die neugelegten Rasen
durch die Strohdecke grünten, um so unruhiger ging
oder ritt Hauke an dieser Stelle vorüber, er wandte
die Augen ab, er ritt hart an der Binnenseite des
Deiches, ein paarmal, wo er dort hätte
vorübermüssen, ließ er sein schon
gesatteltes Pferd wieder in den Stall
zurückführen; dann wieder, wo er nichts dort zu
tun hatte, wanderte er, um nur rasch und ungesehen von
seiner Werfte fortzukommen, plötzlich und zu
Fuß dahin; manchmal auch war er umgekehrt, er hatte
es sich nicht zumuten können, die unheimliche Stelle
aufs neue zu betrachten; und endlich, mit den Händen
hätte er alles wieder aufreißen mögen,
denn wie ein Gewissensbiß, der außer ihm
Gestalt gewonnen hatte, lag dies Stück des Deiches
ihm vor Augen. Und doch, seine Hand konnte nicht mehr
daran rühren; und niemandem, selbst nicht seinem
Weibe, durfte er davon reden. So war der September
gekommen; nachts hatte ein mäßiger Sturm
getobt und war zuletzt nach Nordwest umgesprungen. An
trübem Vormittag danach, zur Ebbezeit, ritt Hauke
auf den Deich hinaus, und es durchfuhr ihn, als er seine
Augen über die Watten schweifen ließ; dort,
von Nordwest herauf, sah er plötzlich wieder, und
schärfer und tiefer ausgewühlt, das
gespenstische neue Bett des Prieles; so sehr er seine
Augen anstrengte, es wollte nicht mehr
weichen.
- Als er nach Hause kam, ergriff Elke
seine Hand. „Was hast du, Hauke?" sprach sie, als
sie in sein düstres Antlitz sah; „es ist doch
kein neues Unheil? Wir sind jetzt so glücklich; mir
ist, du hast nun Frieden mit ihnen allen!"
- Diesen Worten gegenüber
vermochte er seine verworrene Furcht nicht in Worten
kundzugeben.
- „Nein, Elke", sagte er, „mich
feindet niemand an; es ist nur ein verantwortlich Amt,
die Gemeinde vor unseres Herrgotts Meer zu
schützen."
-
- Er machte sich los, um weiteren
Fragen des geliebten Weibes auszuweichen. Er ging in
Stall und Scheuer, als ob er alles revidieren müsse;
aber er sah nichts um sich her; er war nur beflissen,
seinen Gewissensbiß zur Ruhe, ihn sich selber als
eine krankhaft übertriebene Angst zur
Überzeugung zu bringen.
- - - Das Jahr, von
dem ich Ihnen erzähle", sagte nach einer Weile mein
Gastfreund, der Schulmeister, „war das Jahr
1756,
das in dieser Gegend nie vergessen wird; im Hause Hauke
Haiens brachte es eine Tote. Zu Ende des Septembers war
in der Kammer, welche ihr in der Scheune eingeräumt
war, die fast neunzigjährige Trin' Jans am Sterben.
Man hatte sie nach ihrem Wunsche in den Kissen
aufgerichtet, und ihre Augen gingen durch die kleinen
bleigefaßten Scheiben in die Ferne; es mußte
dort am Himmel eine dünnere Luftschicht über
einer dichteren liegen, denn es war hohe Kimmung, und die
Spiegelung hob in diesem Augenblick das Meer wie einen
flimmernden Silberstreifen über den Rand des
Deiches, so daß es blendend in die Kammer
schimmerte; auch die Südspitze von Jeverssand war
sichtbar.
-
- Am Fußende des Bettes kauerte
die kleine Wienke und hielt mit der einen Hand sich fest
an der ihres Vaters, der daneben stand. In das Antlitz
der Sterbenden grub eben der Tod das hippokratische
Gesicht, und das Kind starrte atemlos auf die
unheimliche, ihr unverständliche Verwandlung des
unschönen, aber ihr vertrauten
Angesichts.
- „Was macht sie? Was ist das,
Vater?" flüsterte sie angstvoll und grub die
Fingernägel in ihres Vaters Hand.
- „Sie stirbt!" sagte der
Deichgraf.
- „Stirbt!" wiederholte das Kind
und schien in verworrenes Sinnen zu
verfallen.
- Aber die Alte rührte noch einmal
ihre Lippen: „Jins! Jins!" Und kreischend, wie ein
Notschrei, brach es hervor, und ihre knöchernen Arme
streckten sich gegen die draußen flimmernde
Meeresspiegelung. „Hölp mi! Hölp mi! Du
bist ja bawen Water... Gott gnad de annern!"
- Ihre Arme sanken, ein leises Krachen
der Bettstatt wurde hörbar; sie hatte aufgehört
zu leben.
-
- Das Kind tat einen tiefen Seufzer und
warf die blassen Augen zu ihrem Vater auf „Stirbt
sie noch immer?" frug es.
- „Sie hat es vollbracht!" sagte
der Deichgraf und nahm das Kind auf seinen Arm. „Sie
ist nun weit von uns, beim lieben Gott."
- „Beim lieben Gott!"
wiederholte das Kind und schwieg eine Weile, als
müsse es den Worten nachsinnen. „Ist das gut,
beim lieben Gott?"
- „Ja, das ist das Beste." - In
Haukes Innerm aber klang schwer die letzte Rede der
Sterbenden. „Gott gnad de annern!" sprach es leise
in ihm. „Was wollte die alte Hexe? Sind denn die
Sterbenden Propheten - -?"
- - - Bald nachdem Trin' Jans oben bei
der Kirche eingegraben war, begann man immer lauter von
allerlei Unheil und seltsamem Geschmeiß zu reden,
das die Menschen in Nordfriesland erschreckt haben
sollte; und sicher war es: am Sonntage Lätare war
droben von der Turmspitze der goldne Hahn durch einen
Wirbelwind herabgeworfen worden; auch das war richtig: im
Hochsommer fiel, wie ein Schnee, ein groß
Geschmeiß vom Himmel, daß man die Augen davor
nicht auftun konnte und es hernach fast handhoch auf den
Fennen lag, und hatte niemand je so was gesehen. Als aber
nach Ende September der Großknecht mit Korn und die
Magd Ann Grete mit Butter in die Stadt zu Markt gefahren
waren, kletterten sie bei ihrer Rückkunft mit
schreckensbleichen Gesichtern von ihrem Wagen. „Was
ist? Was habt ihr?" riefen die andern Dirnen, die
hinausgelaufen waren, da sie den Wagen rollen
hörten.
- Ann Grete in ihrem Reiseanzug trat
atemlos in die geräumige Küche. „Nun, so
erzähl doch!" riefen die Dirnen wieder, „wo
ist das Unglück los?"
- „Ach, unser lieber Jesus wolle
uns behüten!" rief Ann Grete. „Ihr
wißt, von drüben, überm Wasser, das alt
Mariken vom Ziegelhof, wir stehen mit unserer Butter ja
allzeit zusammen an der Apothekerecke, die hat es mir
erzählt, und Iven Johns sagte auch, „das gibt
ein Unglück!" sagte er; „ein Unglück
über ganz Nordfriesland; glaub mir's, Ann Gret!"
Und" - sie dämpfte ihre Stimme - „mit des
Deichgrafs Schimmel ist's am Ende auch nicht
richtig!"
- „Scht! scht!" machten die
andern Dirnen.
- - „Ja, ja; was kümmert's
mich! Aber drüben, an der andern Seite, geht's noch
schlimmer als bei uns! Nicht bloß Fliegen und
Geschmeiß, auch Blut ist wie Regen vom Himmel
gefallen; und da am Sonntagmorgen danach der Pastor sein
Waschbecken vorgenommen hat, sind fünf
Totenköpfe, wie Erbsen groß, darin gewesen,
und alle sind gekommen, um das zu sehen; im Monat Augusti
sind grausige rotköpfige Raupenwürmer über
das Land gezogen und haben Korn und Mehl und Brote, was
sie fanden, weggefressen, und hat kein Feuer sie
vertilgen können!"
- Die Erzählerin verstummte
plötzlich; keine der Mägde hatte bemerkt,
daß die Hausfrau in die Küche getreten war. „Was
redet ihr da?" sprach diese. „Laßt das den
Wirt nicht hören!" Und da sie alle jetzt
erzählen wollten: „Es tut nicht not; ich habe
genug davon vernommen; geht an euere Arbeit, das bringt
euch besseren Segen!" Dann nahm sie Ann Gret mit sich in
die Stube und hielt mit dieser Abrechnung über ihre
Marktgeschäfte.
- So fand im Hause des Deichgrafen das
abergläubische Geschwätz bei der Herrschaft
keinen Anhalt; aber in die übrigen Häuser, und
je länger die Abende wurden, um desto leichter,
drang es mehr und mehr hinein. Wie schwere Luft lag es
auf allen, und heimlich sagte man es sich, ein Unheil,
ein schweres, würde über Nordfriesland
kommen.
-
- Es war vor Allerheiligen, im Oktober.
Tagüber hatte es stark aus Südwest
gestürmt; abends stand ein halber Mond am Himmel,
dunkelbraune Wolken jagten überhin, und Schatten und
trübes Licht flogen auf der Erde durcheinander; der
Sturm war im Wachsen. Im Zimmer des Deichgrafen stand
noch der geleerte Abendtisch; die Knechte waren in den
Stall gewiesen, um dort des Viehes zu achten; die
Mägde mußten im Hause und auf den Böden
nachsehen, ob Türen und Luken wohlverschlossen
seien, daß nicht der Sturm hineinfasse und Unheil
anrichte. Drinnen stand Hauke neben seiner Frau am
Fenster; er hatte eben sein Abendbrot hinabgeschlungen;
er war draußen auf dem Deich gewesen. Zu Fuße
war er hinausgetrabt, schon früh am Nachmittag;
spitze Pfähle und Säcke voll Klei oder Erde
hatte er hie und dort, wo der Deich eine Schwäche zu
verraten schien, zusammentragen lassen; überall
hatte er Leute angestellt, um die Pfähle einzurammen
und mit den Säcken vorzudämmen, sobald die Flut
den Deich zu schädigen beginne; an dem Winkel zu
Nordwesten, wo der alte und der neue Deich
zusammenstießen, hatte er die meisten Menschen
hingestellt, nur im Notfall durften sie von den
angewiesenen Plätzen weichen. Das hatte er
zurückgelassen; dann, vor kaum einer Viertelstunde,
naß, zerzaust, war er in seinem Hause angekommen,
und jetzt, das Ohr nach den Windböen, welche die in
Blei gefaßten Scheiben rasseln machten, blickte er
wie gedankenlos in die wüste Nacht hinaus; die
Wanduhr hinter ihrer Glasscheibe schlug eben acht. Das
Kind, das neben der Mutter stand, fuhr zusammen und barg
den Kopf in deren Kleider. „Klaus!" rief sie
weinend; „wo ist mein Klaus?"
-
- Sie konnte wohl so fragen, denn die
Möwe hatte, wie schon im vorigen Jahre, so auch
jetzt ihre Winterreise nicht mehr angetreten. Der Vater
überhörte die Frage; die Mutter aber nahm das
Kind auf den Arm. „Dein Klaus ist in der Scheune",
sagte sie; „da sitzt er warm."
- „Warum?" sagte Wienke; „ist
das gut?"
- „Ja, das ist gut."
-
- Der Hausherr stand noch am Fenster. „Es
geht nicht länger, Elke!" sagte er, „ruf eine
von den Dirnen; der Sturm drückt uns die Scheiben
ein, die Luken müssen angeschroben
werden!"
- Auf das Wort der Hausfrau war die
Magd hinausgelaufen; man sah vom Zimmer aus, wie ihr die
Röcke flogen; aber als sie die Klammern gelöst
hatte, riß ihr der Sturm den Laden aus der Hand und
warf ihn gegen die Fenster, daß ein paar Scheiben
zersplittert in die Stube flogen und eins der Lichter
qualmend auslosch. Hauke mußte selbst hinaus, zu
helfen, und nur mit Not kamen allmählich die Luken
vor die Fenster. Als sie beim Wiedereintritt in das Haus
die Tür aufrissen, fuhr eine Böe hintendrein,
daß Glas und Silber im Wandschrank
durcheinanderklirrten; oben im Hause über ihren
Köpfen zitterten und krachten die Balken, als wolle
der Sturm das Dach von den Mauern reißen. Aber
Hauke kam nicht wieder in das Zimmer; Elke hörte,
wie er durch die Tenne nach dem Stalle schritt. „Den
Schimmel! Den Schimmel, John! Rasch!" hörte sie ihn
rufen; dann kam er wieder in die Stube, das Haar
zerzaust, aber die grauen Augen leuchtend. „Der
Wind ist umgesprungen!" rief er - „nach Nordwest,
auf halber Springflut! Kein Wind; - wir haben solchen
Sturm noch nicht erlebt!"
- Elke war totenblaß geworden. „Und
du mußt noch einmal hinaus?"
- Er ergriff ihre beiden Hände und
drückte sie wie im Krampfe in die seinen. „Das
muß ich, Elke."
- Sie erhob langsam ihre dunkeln Augen
zu ihm, und ein paar Sekunden lang sahen sie sich an;
doch war's wie eine Ewigkeit. „Ja, Hauke", sagte
das Weib; „ich weiß es wohl, du
mußt!"
- Da trabte es draußen vor der
Haustür. Sie fiel ihm um den Hals, und einen
Augenblick war's, als könne sie ihn nicht lassen;
aber auch das war nur ein Augenblick. „Das ist
unser Kampf!" sprach Hauke; „ihr seid hier sicher;
an dies Haus ist noch keine Flut gestiegen. Und bete zu
Gott, daß er auch mit mir sei!"
- Hauke hüllte sich in seinen
Mantel, und Elke nahm ein Tuch und wickelte es ihm
sorgsam um den Hals; sie wollte ein Wort sprechen, aber
die zitternden Lippen versagten es ihr.
-
- Draußen wieherte der Schimmel,
daß es wie Trompetenschall in das Heulen des
Sturmes hineinklang. Elke war mit ihrem Mann
hinausgegangen; die alte Esche knarrte, als ob sie
auseinanderstürzen solle. „Steigt auf, Herr!"
rief der Knecht, „der Schimmel ist wie toll; die
Zügel könnten reißen." Hauke schlug die
Arme um sein Weib. „Bei Sonnenaufgang bin ich
wieder da!"
- Schon war er auf sein Pferd
gesprungen; das Tier stieg mit den Vorderhufen in die
Höhe, dann, gleich einem Streithengst, der sich in
die Schlacht stürzt, jagte es mit seinem Reiter die
Werfte hinunter, in Nacht und Sturmgeheul hinaus. „Vater,
mein Vater!" schrie eine klägliche Kinderstimme
hinter ihm darein; „mein lieber
Vater!"
- Wienke war im Dunkeln hinter dem
Fortjagenden hergelaufen; aber schon nach hundert
Schritten strauchelte sie über einen Erdhaufen und
fiel zu Boden.
- Der Knecht Iven Johns brachte das
weinende Kind der Mutter zurück; die lehnte am
Stamme der Esche, deren Zweige über ihr die Luft
peitschten, und starrte wie abwesend in die Nacht hinaus,
in der ihr Mann verschwunden war; wenn das Brüllen
des Sturmes und das ferne Klatschen des Meeres einen
Augenblick aussetzten, fuhr sie wie in Schreck zusammen;
ihr war jetzt, als suche alles nur ihn zu verderben und
werde jäh verstummen, wenn es ihn gefaßt habe.
ihre Knie zitterten, ihre Haare hatte der Sturm
gelöst und trieb damit sein Spiel. „Hier ist
das Kind, Frau!" schrie John ihr zu; „haltet es
fest!" und drückte die Kleine der Mutter in den
Arm.
- „Das Kind? - Ich hatte dich
vergessen, Wienke!" rief sie; „Gott verzeih
mir's." Dann hob sie es an ihre Brust, so fest nur Liebe
fassen kann, und stürzte mit ihr in die Knie. „Herr
Gott und du mein Jesus, laß uns nicht Witwe und
Waise werden! Schütz ihn, o lieber Gott; nur du und
ich, wir kennen ihn allein!" Und der Sturm setzte nicht
mehr aus; es tönte und donnerte, als solle die ganze
Welt in ungeheuerem Hall und Schall zugrunde
gehen.
- „Geht in das Haus, Frau!"
sagte John; „kommt!" Und er half ihnen auf und
leitete die beiden in das Haus und in die
Stube.
-
- - - Der Deichgraf Hauke Haien jagte
auf seinem Schimmel dem Deiche zu. Der schmale Weg war
grundlos, denn die Tage vorher war unermeßlicher
Regen gefallen; aber der nasse saugende Klei schien
gleichwohl die Hufen des Tieres nicht zu halten, es war,
als hätte es festen Sommerboden unter sich. Wie eine
Wilde Jagd trieben die Wolken am Himmel; unten lag die
weite Marsch wie eine unerkennbare, von unruhigen
Schatten erfüllte Wüste; von dem Wasser hinter
dem Deiche, immer ungeheurer, kam ein dumpfes Tosen, als
müsse es alles andere verschlingen. „Vorwärts,
Schimmel!" rief Hauke; „wir reiten unseren
schlimmsten Ritt!"
- Da klang es wie ein Todesschrei unter
den Hufen seines Rosses. Er riß den Zügel
zurück; er sah sich um: ihm zur Seite dicht
über dem Boden, halb fliegend, halb vom Sturme
geschleudert, zog eine Schar von weißen Möwen,
ein höhnisches Gegacker ausstoßend; sie
suchten Schutz im Lande. Eine von ihnen - der Mond schien
flüchtig durch die Wolken - lag am Weg zertreten:
dem Reiter war's, als flattere ein rotes Band an ihrem
Halse. „Klaus!" rief er. „Armer
Klaus!"
-
- War es der Vogel seines Kindes? Hatte
er Roß und Reiter erkannt und sich bei ihnen bergen
wollen? - Der Reiter wußte es nicht. „Vorwärts!"
rief er wieder, und schon hob der Schimmel zu neuem
Rennen seine Hufen; da setzte der Sturm plötzlich
aus, eine Totenstille trat an seine Stelle; nur eine
Sekunde lang, dann kam er mit erneuter Wut zurück;
aber Menschenstimmen und verlorenes Hundegebell waren
inzwischen an des Reiters Ohr geschlagen, und als er
rückwärts nach seinem Dorf den Kopf wandte,
erkannte er in dem Mondlicht, das hervorbrach, auf den
Werften und vor den Häusern Menschen an
hochbeladenen Wagen umherhantierend; er sah, wie im
Fluge, noch andere Wagen eilend nach der Geest
hinauffahren; Gebrüll von Rindern traf sein Ohr, die
aus den warmen Ställen nach dort hinaufgetrieben
wurden. „Gott Dank! sie sind dabei, sich und ihr
Vieh zu retten!" rief es in ihm; und dann mit einem
Angstschrei: „Mein Weib! Mein Kind! - Nein, nein;
auf unsere Werfte steigt das Wasser nicht!"
-
- Aber nur ein Augenblick war es; nur
wie eine Vision flog alles an ihm vorbei.
- Eine furchtbare Böe kam
brüllend vom Meer herüber, und ihr entgegen
stürmten Roß und Reiter den schmalen Akt zum
Deich hinan. Als sie oben waren, stoppte Hauke mit Gewalt
sein Pferd. Aber wo war das Meer? Wo Jeverssand? Wo blieb
das Ufer drüben? - Nur Berge von Wasser sah er vor
sich, die dräuend gegen den nächtlichen Himmel
stiegen, die in der furchtbaren Dämmerung sich
übereinanderzutürmen suchten und
übereinander gegen das feste Land schlugen. Mit
weißen Kronen kamen sie daher, heulend, als sei in
ihnen der Schrei alles furchtbaren Raubgetiers der
Wildnis. Der Schimmel schlug mit den Vorderhufen und
schnob mit seinen Nüstern in den Lärm hinaus;
den Reiter aber wollte es überfallen, als sei hier
alle Menschenmacht zu Ende; als müsse jetzt die
Nacht, der Tod, das Nichts hereinbrechen.
- Doch er besann sich: es war ja
Sturmflut; nur hatte er sie selbst noch nimmer so
gesehen; sein Weib, sein Kind, sie saßen sicher auf
der hohen Werfte, in dem festen Hause; sein Deich aber -
und wie ein Stolz flog es ihm durch die Brust -, der
Hauke-Haien-Deich, wie ihn die Leute nannten, der mochte
jetzt beweisen, wie man Deiche bauen
müsse!
-
- Aber - was war das? - Er hielt an dem
Winkel zwischen beiden Deichen; wo waren die Leute, die
er hierher gestellt, die hier die Wacht zu halten hatten?
- Er blickte nach Norden den alten Deich hinauf, denn
auch dorthin hatte er einzelne beordert. Weder hier noch
dort vermochte er einen Menschen zu erblicken; er ritt
ein Stück hinaus, aber er blieb allein; nur das
Wehen des Sturmes und das Brausen des Meeres bis aus
unermessener Ferne schlug betäubend an sein Ohr. Er
wandte das Pferd zurück: er kam wieder zu der
verlassenen Ecke und ließ seine Augen längs
der Linie des neuen Deiches gleiten; er erkannte
deutlich: langsamer, weniger gewaltig rollten hier die
Wellen heran; fast schien's, als wäre dort ein ander
Wasser. „Der soll schon stehen!" murmelte er, und
wie ein Lachen stieg es in ihm herauf.
-
- Aber das Lachen verging ihm, als
seine Blicke weiter an der Linie seines Deiches
entlangglitten: an der Nordwestecke - was war das dort?
Ein dunkler Haufen wimmelte durcheinander; er sah, wie es
sich emsig rührte und drängte - kein Zweifel,
es waren Menschen! Was wollten, was arbeiteten die jetzt
an seinem Deich? - Und schon saßen seine Sporen dem
Schimmel in den Weichen, und das Tier flog mit ihm dahin;
der Sturm kam von der Breitseite; mitunter drängten
die Böen so gewaltig, daß sie fast vom Deiche
in den neuen Koog hinabgeschleudert wären; aber
Roß und Reiter wußten, wo sie ritten. Schon
gewahrte Hauke, daß wohl ein paar Dutzend Menschen
in eifriger Arbeit dort beisammen seien, und schon sah er
deutlich, daß eine Rinne quer durch den neuen Deich
gegraben war. Gewaltsam stoppte er sein Pferd. „Halt!"
schrie er; „halt! Was treibt ihr hier für
Teufelsunfug?"
- Sie hatten in Schreck die Spaten
ruhen lassen, als sie auf einmal den Deichgraf unter sich
gewahrten; seine Worte hatte der Sturm ihnen zugetragen,
und er sah wohl, daß mehrere ihm zu antworten
strebten; aber er gewahrte nur ihre heftigen
Gebärden, denn sie standen alle ihm zur Linken, und
was sie sprachen, nahm der Sturm hinweg, der hier
draußen jetzt die Menschen mitunter wie im Taumel
gegeneinanderwarf, so daß sie sich dicht
zusammenscharten. Hauke maß mit seinen raschen
Augen die gegrabene Rinne und den Stand des Wassers, das,
trotz des neuen Profiles, fast an die Höhe des
Deichs hinaufklatschte und Roß und Reiter
überspritzte. Nur noch zehn Minuten Arbeit - er sah
es wohl -, dann brach die Hochflut durch die Rinne, und
der Hauke-Haien-Koog wurde vom Meer begraben!
-
- Der Deichgraf winkte einem der
Arbeiter an die andere Seite seines Pferdes. „Nun,
so sprich!" schrie er, „was treibt ihr hier, was
soll das heißen?"
- Und der Mensch schrie dagegen: „Wir
sollen den neuen Deich durchstechen, Herr, damit der alte
Deich nicht bricht!"
- „Was sollt ihr?"
- - „Den neuen Deich
durchstechen!"
- „Und den Koog
verschütten? - Welcher Teufel hat euch das
befohlen?"
- „Nein, Herr, kein Teufel; der
Gevollmächtigte Ole Peters ist hier gewesen, der
hat's befohlen!"
- Der Zorn stieg dem Reiter in die
Augen. „Kennt ihr mich?" schrie er. „Wo ich
bin, hat Ole Peters nichts zu ordinieren! Fort mit euch!
An eure Plätze, wo ich euch
hingestellt!"
- Und da sie zögerten, sprengte er
mit seinem Schimmel zwischen sie: „Fort, zu euerer
oder des Teufels Großmutter!"
-
- „Herr, hütet Euch!" rief
einer aus dem Haufen und stieß mit seinem Spaten
gegen das wie rasend sich gebärdende Tier; ein
anderer stürzte zu Boden. Da plötzlich erhob
sich ein Schrei aus dem übrigen Haufen, ein Schrei,
wie ihn nur die Todesangst einer Menschenkehle zu
entreißen pflegt; einen Augenblick war alles, auch
der Deichgraf und der Schimmel, wie gelähmt; nur ein
Arbeiter hatte gleich einem Wegweiser seinen Arm
gestreckt; der wies nach der Nordwestecke der beiden
Deiche, dort wo der neue auf den alten stieß. Nur
das Tosen des Sturmes und das Rauschen des Wassers war zu
hören. Hauke drehte sich im Sattel: was gab das
dort? Seine Augen wurden groß. „Herr Gott!
Ein Bruch! Ein Bruch im alten Deich!"
- „Euere Schuld, Deichgraf!"
schrie eine Stimme aus dem Haufen. „Euere Schuld!
Nehmt's mit vor Gottes Thron!"
-
- Haukes zornrotes Antlitz war
totenbleich geworden; der Mond, der es beschien, konnte
es nicht bleicher machen; seine Arme hingen schlaff, er
wußte kaum, daß er den Zügel hielt. Aber
auch das war nur ein Augenblick; schon richtete er sich
auf, ein hartes Stöhnen brach aus seinem Munde, dann
wandte er stumm sein Pferd, und der Schimmel schnob und
raste ostwärts auf dem Deich mit ihm dahin. Des
Reiters Augen flogen scharf nach allen Seiten; in seinem
Kopfe wühlten die Gedanken: Was hatte er für
Schuld vor Gottes Thron zu tragen? - Der Durchstich des
neuen Deichs - vielleicht, sie hätten's
fertiggebracht, wenn er sein Halt nicht gerufen
hätte; aber - es war noch eins, und es schoß
ihm heiß zu Herzen, er wußte es nur zu gut -
im vorigen Sommer, hätte damals Ole Peters'
böses Maul ihn nicht zurückgehalten - da lag's!
Er allein hatte die Schwäche des alten Deichs
erkannt; er hätte trotz alledem das neue Werk
betreiben müssen. „Herr Gott, ja, ich bekenn
es", rief er plötzlich laut in den Sturm hinaus, „ich
habe meines Amtes schlecht gewaltet!"
-
- Zu seiner Linken, dicht an des
Pferdes Hufen, tobte das Meer; vor ihm, und jetzt in
voller Finsternis, lag der alte Koog mit seinen Werften
und heimatlichen Häusern; das bleiche Himmelslicht
war völlig ausgetan; nur von einer Stelle brach ein
Lichtschein durch das Dunkel. Und wie ein Trost kam es an
des Mannes Herz; es mußte von seinem Haus
herüberscheinen, es war ihm wie ein Gruß von
Weib und Kind. Gottlob, sie saßen sicher auf der
hohen Werfte! Die andern, gewiß, sie waren schon im
Geestdorf droben; von dorther schimmerte soviel
Lichtschein, wie er niemals noch gesehen hatte; ja selbst
hoch oben aus der Luft, es mochte wohl vom Kirchturm
sein, brach solcher in die Nacht hinaus. „Sie
werden alle fort sein, alle!" sprach Hauke bei sich
selber; „freilich auf mancher Werfte wird ein Haus
in Trümmern liegen, schlechte Jahre werden für
die überschwemmten Fennen kommen, Siele und
Schleusen zu reparieren sein! Wir müssen's tragen,
und ich will helfen, auch denen, die mir Leids getan;
nur, Herr, mein Gott, sei gnädig mit uns
Menschen!"
- Da warf er seine Augen seitwärts
nach dem neuen Koog; um ihn schäumte das Meer; aber
in ihm lag es wie nächtlicher Friede. Ein
unwillkürliches Jauchzen brach aus des Reiters
Brust: „Der Hauke-Haien-Deich, er soll schon
halten, er wird es noch nach hundert Jahren
tun!"
-
- Ein donnerartiges Rauschen zu seinen
Füßen weckte ihn aus diesen Träumen; der
Schimmel wollte nicht mehr vorwärts. Was war das? -
Das Pferd sprang zurück, und er fühlte es, ein
Deichstück stürzte vor ihm in die Tiefe. Er
riß die Augen auf und schüttelte alles Sinnen
von sich: er hielt am alten Deich, der Schimmel hatte mit
den Vorderhufen schon darauf gestanden.
Unwillkürlich riß er das Pferd zurück; da
flog der letzte Wolkenmantel von dem Mond, und das milde
Gestirn beleuchtete den Graus, der schäumend,
zischend vor ihm in die Tiefe stürzte, in den alten
Koog hinab.
-
- Wie sinnlos starrte Hauke darauf hin;
eine Sündflut war's, um Tier und Menschen zu
verschlingen. Da blinkte wieder ihm der Lichtschein in
die Augen; es war derselbe, den er vorhin gewahrt hatte;
noch immer brannte der auf seiner Werfte; und als er
jetzt ermutigt in den Koog hinabsah, gewahrte er wohl,
daß hinter dem sinnverwirrenden Strudel, der tosend
vor ihm hinabstürzte, nur noch eine Breite von etwa
hundert Schritten überflutet war; dahinter konnte er
deutlich den Weg erkennen, der vom Koog heranführte.
Er sah noch mehr: ein Wagen, nein, eine zweiräderige
Karriole kam wie toll gegen den Deich herangefahren; ein
Weib, ja auch ein Kind saßen darin. Und jetzt - war
das nicht das kreischende Gebell eines kleinen Hundes,
das im Sturm vorüberflog? Allmächtiger Gott!
Sein Weib, sein Kind waren es; schon kamen sie dicht
heran, und die schäumende Wassermasse drängte
auf sie zu. Ein Schrei, ein Verzweiflungsschrei brach aus
der Brust des Reiters. „Elke!" schrie er; „Elke!
Zurück! Zurück!"
-
- Aber Sturm und Meer waren nicht
barmherzig, ihr Toben zerwehte seine Worte; nur seinen
Mantel hatte der Sturm erfaßt, es hätte ihn
bald vom Pferd herabgerissen; und das Fuhrwerk flog ohne
Aufenthalt der stürzenden Flut entgegen. Da sah er,
daß das Weib wie gegen ihn hinauf die Arme
streckte: Hatte sie ihn erkannt? Hatte die Sehnsucht, die
Todesangst um ihn sie aus dem sicheren Haus getrieben?
Und jetzt - rief sie ein letztes Wort ihm zu? - Die
Fragen fuhren durch sein Hirn; sie blieben ohne Antwort:
von ihr zu ihm, von ihm zu ihr waren die Worte all
verloren: nur ein Brausen wie vom Weltenuntergang
füllte ihre Ohren und ließ keinen andern Laut
hinein.
- „Mein Kind! O Elke, o getreue
Elke!" schrie Hauke in den Sturm hinaus. Da sank aufs neu
ein großes Stück des Deiches vor ihm in die
Tiefe, und donnernd stürzte das Meer sich
hintendrein; noch einmal sah er drunten den Kopf des
Pferdes, die Räder des Gefährtes aus dem
wüsten Greuel emportauchen und dann quirlend darin
untergehen. Die starren Augen des Reiters, der so einsam
auf dem Deiche hielt, sahen weiter nichts. „Das
Ende!" sprach er leise vor sich hin; dann ritt er an den
Abgrund, wo unter ihm die Wasser, unheimlich rauschend,
sein Heimatsdorf zu überfluten begannen; noch immer
sah er das Licht von seinem Hause schimmern; es war ihm
wie entseelt. Er richtete sich hoch auf und stieß
dem Schimmel die Sporen in die Weichen; das Tier
bäumte sich, es hätte sich fast
überschlagen; aber die Kraft des Mannes drückte
es herunter. „Vorwärts!" rief er noch einmal,
wie er es so oft zum festen Ritt gerufen hatte. „Herr
Gott, nimm mich; verschon die andere!"
- Noch ein Sporenstich; ein Schrei des
Schimmels, der Sturm und Wellenbrausen überschrie;
dann unten aus dem hinabstürzenden Strom ein dumpfer
Schall, ein kurzer Kampf.
-
- Der Mond sah leuchtend aus der
Höhe; aber unten auf dem Deiche war kein Leben mehr
als nur die wilden Wasser, die bald den alten Koog fast
völlig überflutet hatten. Noch immer aber ragte
die Werfte von Hauke Haiens Hofstatt aus dem Schwall
hervor, noch schimmerte von dort der Lichtschein, und von
der Geest her, wo die Häuser allmählich dunkel
wurden, warf noch die einsame Leuchte aus dem Kirchturm
ihre zitternden Lichtfunken über die
schäumenden Wellen."
- _______________
-
- Der Erzähler schwieg; ich griff
nach dem gefüllten Glase, das seit lange vor mir
stand; aber ich führte es nicht zum Munde; meine
Hand blieb auf dem Tische ruhen.
-
- „Das ist die Geschichte von
Hauke Haien", begann mein Wirt noch einmal, „wie
ich sie nach bestem Wissen nur berichten konnte.
Freilich, die Wirtschafterin unseres Deichgrafen
würde sie Ihnen anders erzählt haben; denn auch
das weiß man zu berichten: jenes weiße
Pferdsgerippe ist nach der Flut wiederum, wie vormals, im
Mondschein auf Jevershallig zu sehen gewesen; das ganze
Dorf will es gesehen haben. - Soviel ist sicher: Hauke
Haien mit Weib und Kind ging unter in dieser Flut; nicht
einmal ihre Grabstätte hab ich droben auf dem
Kirchhof finden können; die toten Körper werden
von dem abströmenden Wasser durch den Bruch ins Meer
hinausgetrieben und auf dessen Grunde allmählich in
ihre Urbestandteile aufgelöst sein - so haben sie
Ruhe vor den Menschen gehabt. Aber der Hauke-Haien-Deich
steht noch jetzt nach hundert Jahren, und wenn Sie morgen
nach der Stadt reiten und die halbe Stunde Umweg nicht
scheuen wollen, so werden Sie ihn unter den Hufen Ihres
Pferdes haben.
-
- Der Dank, den einstmals Jewe Manners
bei den Enkeln seinem Erbauer versprochen hatte, ist, wie
Sie gesehen haben, ausgeblieben; denn so ist es, Herr:
dem Sokrates gaben sie ein Gift zu trinken, und unsern
Herrn Christus schlugen sie an das Kreuz! Das geht in den
letzten Zeiten nicht mehr so leicht; aber - einen
Gewaltsmenschen oder einen bösen stiernackigen
Pfaffen zum Heiligen oder einen tüchtigen Kerl, nur
weil er uns um Kopfeslänge überwachsen war, zum
Spuk und Nachtgespenst zu machen - das geht noch alle
Tage."
- Als das ernsthafte Männlein das
gesagt hatte, stand es auf und horchte nach
draußen. „Es ist dort etwas anders worden",
sagte er und zog die Wolldecke vom Fenster; es war heller
Mondschein. „Seht nur", fuhr er fort, „dort
kommen die Gevollmächtigten zurück; aber sie
zerstreuen sich, sie gehen nach Hause; - drüben am
andern Ufer muß ein Bruch geschehen sein; das
Wasser ist gefallen."
- Ich blickte neben ihm hinaus; die
Fenster hier oben lagen über dem Rand des Deiches;
es war, wie er gesagt hatte. Ich nahm mein Glas und trank
den Rest. „Haben Sie Dank für diesen Abend!"
sagte ich; „ich denk, wir können ruhig
schlafen!"
-
- „Das können wir",
entgegnete der kleine Herr; „ich wünsche von
Herzen eine wohlschlafende Nacht!"
- - - Beim Hinabgehen traf ich unten
auf dem Flur den Deichgrafen; er wollte noch eine Karte,
die er in der Schenkstube gelassen hatte, mit nach Hause
nehmen. „Alles vorüber!" sagte er. „Aber
unser Schulmeister hat Ihnen wohl schön was
weisgemacht; er gehört zu den
Aufklärern!"
- - „Er scheint ein
verständiger Mann!"
- „Ja, ja, gewiß; aber Sie
können Ihren eigenen Augen doch nicht
mißtrauen; und drüben an der andern Seite, ich
sagte es ja voraus, ist der Deich gebrochen!"
- Ich zuckte die Achseln: „Das
muß beschlafen werden! Gute Nacht, Herr
Deichgraf!"
- Er lachte: „Gute
Nacht!"
-
- - - Am andern Morgen, beim goldensten
Sonnenlichte, das über einer weiten Verwüstung
aufgegangen war, ritt ich über den Hauke-Haien-Deich
zur Stadt hinunter.
-
- zurück
- weiter
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