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Kulturgeschichte - 19. Jahrhundert - Storm - Der Schimmelreiter


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Einleitung und Vorbereitung
Erzählung des Schulmeisters
Unterbrechung, Trin' Jans
Haukes kommt zum Deichgrafen
Haukes Gespräch mit Elke
Eisboseln und Ole Peters
Eisboseln, Versöhnung mit Trine
Tod Tede Haiens, Haukes Erbteil
Begräbnis und Nachfolge
Hauke als Deichgraf
Das Pferd von Jever
Haukes Schimmel
Der neue Deich
Deichbau
Nachwuchs
„etwas lebigs -Wienke
Sturm und Untergang
Materialien
Pappes Vorlage
Rungholt
Liliencrons Gedicht

Text als pdf-Datei
Detlev Liliencron
Trutz, blanke Hans

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Heute bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört
wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schütterte, stöhnte,
aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
Trutz, Blanke Hans!
 
Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
liegen die friesischen Inseln im Frieden,
und Zeugen weltenvernichtender Wut,
taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.
Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten,
der Seehund sonnt sich auf sandigen Platten.
Trutz, Blanke Hans!
 
Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde
ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde.
Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,
die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.
Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen
und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen.
Trutz, Blanke Hans!
 
Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen
die Kiemen gewaltige Wassermassen.
Dann holt das Untier tiefer Atem ein
und peitscht die Wellen und schläft wieder ein.
Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken,
viel reiche Länder und Städte versinken.
Trutz, Blanke Hans!
 
Rungholt ist reich und wird immer reicher,
kein Korn mehr faßt selbst der größeste Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom
staut hier alltäglich der Menschenstrom.
Die Sänften tragen Syrer und Mohren,
mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.
Trutz, Blanke Hans!
 
Auf allen Märkten, auf allen Gassen
lärmende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:
"Wir trutzen dir, Blanker Hans, Nordseeteich !"
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.
Trutz, Blanke Hans!
 
Die Wasser ebben, die Vögel ruhen,
der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen,
der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,
belächelt den protzigen Rungholter Wahn.
Von Brasilien glänzt bis zu Norwegs Riffen
das schlafende Meer wie Stahl, der geschliffen
das Meer wie schlafender Stahl, der geschliffen". (1)
Trutz, Blanke Hans!
 
Und überall Friede, im Meer, in den Landen.
Plötzlich, wie Ruf eines Raubtiers in Banden:
das Scheusal wälzte sich, atmete tief
und schloß die Augen wieder und schlief.
Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen
kommen wie rasende Rosse geflogen.
Trutz, Blanke Hans!
 
Ein einziger Schrei- die Stadt ist versunken,
und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
schwamm andern Tags der stumme Fisch.---
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Trutz, Blanke Hans!
 

 
 
(1) Zu Liliencrons Formulierung - Diskussion

Herbst 2006
Der Heimatdichter Volker Helsand argumentiert, die Formulierung "das Meer wie schlafender Stahl, der geschliffen", könnte ein Konzentrationsfehler Liliencrons sein, da das Partizip logischerweise dem Meer und nicht dem Stahl zugeordnet sein müßte - eine Ansicht, die einleuchtet.

Juni 2007
Sven Wittnebel aus Berlin argumentiert gerade entgegengesetzt:
 
"Ich halte diese Ansicht aus folgendem Grund für falsch. Das "schlafende Meer" (kaum oder kein Seegang/Wellenbildung) mag vordergründig einen grauen Eindruck machen, wie eine geschliffene, aber nicht polierte Oberfläche eines Stahlstücks. Hier jedoch wird das Meer als ein unberechenbares, jederzeit gefährlich werdendes Naturereignis geschildert.
 
Als Gleichnis dient dem Dichter der geschliffene Stahl oder auch die Blankwaffe, die quasi schlafend in der Scheide ruht und jederzeit unheilvoll hervorbrechen kann (wie ein plötzlich gezogener Degen). Ich bin der Überzeugung, dass Detlev von Liliencron als ehemaliger Kavallerieoffizier, der noch selbst mit dem Säbel/Reiterdegen in die Schlacht zog, genau daran gedacht hat.
 
Anzumerken wäre auch, dass die Blankwaffen in der preußischen Armee nur in Kriegszeiten scharf geschliffen waren. Dass der Stahl gerade "schläft", aber geschliffen ist, bedeutet seine jederzeitige Einsatzbereitschaft im Kriege, was hier mit dem jederzeit verheerenden Naturschauspiel eines plötzlich wütenden Meeres gleichzusetzen wäre." 
 
Volker Helsand ergänzt ein paar Wochen später seinen Standpunkt:
 
August 2007
"Das Meer glänzt wie schlafender Stahl, der geschliffen". Für richtig halte ich: "Glänzt das schlafende Meer wie Stahl, der geschliffen".
 
Der Autor erzählt in anderen Strophen des Gedichtes nachvollziehbar, dass die Rungholter ein Natur-Ungeheuer provozierten, welches sich in der Nordsee, also im "Blanken Hans" befindet. Dieses stürmische Meer hat volkstümlich die Bezeichnung "Blanker Hans" und der Mond, von dem zwei Zeilen vorher die Rede ist, sorgt dafür, dass in ruhiger Nacht das "schlafende Meer" wie blanker Stahl glänzt. Wenn Liliencron das ihm unterstellte Gleichnis mit der überfallartig benutzten Blankwaffe bewußt anwenden wollte, hätte er keinen absolut falschen Vergleich nötig gehabt. - Denn nur im ruhenden Zustand kann die Oberfläche des sonst stets bewegten Meeres mit der immer starren Fläche geschliffenen, glänzenden Stahls verglichen werden. 
 
Die Reaktion der Nordsee - dem "Blanken Hans" - mit einer militärischen Säbelattacke in Verbindung gebracht, hätte den Dichter, auch Beamter auf Amrum, sicher bei allen Kennern der - "Springflut-Katastrophen in der Nordsee" - mehr als lächerlich gemacht. Gerade weil der Dichter in der Sprache des Volkes nachvollziehbare Situationen erzeugt, benutzt er dazu keine unverständlichen oder indifferent deutbaren Gleichnisse. Liliencrons Themen waren Dummheit und Arroganz der Menschheit, welche das "Ungeheuer Natur" provozierten. 
 
Für die Wahrscheinlichkeit, des Konzentrationsfehlers in Liliencrons Text spricht auch, daß in der von mir korrigierten Version nur durch Sortierung bereits vorhandene Worte in logischen Zusammenhang gebracht werden konnten.  Es ist daher auch möglich, dass sich der "schlafende Stahl" durch einen übersehenen Satzfehler beim Erstdruck von "Trutz blanke Hans", vor mehr als 100 Jahren etabliert hat.
 
Es bleibt zu hoffen, daß die andere Argumente für das Gedicht nicht die Meinung forcieren, der dauernd in Pleite befindliche Dichter habe sich als "Blanker Hans" in aggressiver Stimmung befunden, als er das Gedicht schrieb.


Reinhard Weber argumentiert im Sinne Liliencrons

Juli 2013
Die Umstellung ist verblüffend einfach, doch nimmt sie für mein Empfinden der Zeile das Bedrohliche, dass nach meiner Meinung gewollt ist.

Das Meer glänzt wie schlafender Stahl ... der geschliffen - das bleibt hängen (ich lese es immer sehr leise vor und genieße das "ff" als Krönung der Zeile, zumal das Thema danach noch einmal neu angegangen wird. Mit Friede, im Meer, in den Landen), bevor die Geschichte "plötzlich" Fahrt aufnimmt.


Ich danke allen Lesern für Ihr Engagement und finde es schön, daß solche Diskussionen geführt werden - sie sind in der Schule leider nicht möglich ... MS - Seitenanfang