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Kulturgeschichte - 20. Jahrhundert - Nationalsozialismus


Nationalsozialismus

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Anne Frank
Die Zeit bis zum Untertauchen
erstellt von Frederike v. Wehrs 15.Januar 2001

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Die Zeit bis zum Untertauchen, wie es Anne Frank in der Zeit zwischen der Ankunft in Amsterdam und dem Untertauchen ergangen ist, erfährt man zum Teil aus Erinnerungen, die sie in ihrem Tagebuch und im Geschichtenbuch aufgeschrieben hat. Außerdem aus den Erinnerungen von Miep Gies.
 
Anne war im Februar 1933 nach Amsterdam gekommen, in die Wohnung am Merwedeplein Nr. 37. Im Süden von Amsterdam wurde damals viel gebaut, und eine ganze Reihe der vor den Nazis geflohenen Juden siedelte sich in der folgenden Zeit dort an.
 
Die Kinder Anne und Margot gewöhnten sich gut ein, lernten auch schnell Niederländisch, sehr viel schneller als ihre Mutter. Anne fand eine Freundin in der nur wenige Monate älteren Hanneli Goslar, die mit ihren Eltern aus Berlin geflohen war und ebenfalls am Merwedeplein wohnte, im Haus Nr. 31. Die beiden lernten sich gleich nach der Ankunft von Hanneli kennen und wurden gute Freundinnen. Auch ihre Eltern freundeten sich miteinander an, obwohl die Goslars, im Gegensatz zu den Franks, sehr religiös waren und die Gebote, die in der jüdischen Religion die gesamte Lebensführung bestimmen, einhielten.
 
Die beiden Mädchen kamen auch zusammen in den Montessori - Kindergarten, der sich nicht weit vom Merwedeplein befand. Nach der Beendung des Kindergartens besuchten sie gemeinsam die sechste öffentliche Montessori - Schule, die heute Anne Frank Schule heißt. Die Freundschaft zwischen Anne und Hanneli war eng, auch wenn sie nicht ihr gesamte Freizeit miteinander verbrachten, weil Hanneli, als Tochter einer frommen Familie, am Schabbat (samstags) nicht in die Schule gehen durfte und am schulfreien Mittwochnachmittag und sonntags morgens Hebräisch lernte, beziehungsweise Religionsunterricht bekam. Anne hingegen ging auch samstags zur Schule und lernte nicht Hebräisch.
 
Eigentlich waren es drei Freundinnen, Anne, Hanneli und Sanne, doch Sanne besuchte eine andere Schule und hatte auch dort eine gute Freundin, wie Anne in ihrem Tagebuch schreibt. Alles in allem seien sie ganz normale Mädchen gewesen, berichtete Hanneli Goslar, Mädchen die sich manchmal stritten, dann aber auch wieder versöhnten.
 
Im Oktober 1940 bekam Hanneli eine kleine Schwester. Margot und Anne besuchten sie jeden Sonntag, weil sie zusehen wollten, wie das Baby gefüttert und gebadet wurde.
 
Hanneli erinnerte sich auch noch daran, dass Anne immer an ihren langen, dunklen Haaren herum spielte. Und an eine körperliche Auffälligkeit: Sie konnte, wann immer sie wollte, ihre Schulter ausrenken, und es machte ihr Spaß, wenn alle Kinder darüber lachten.
 
"Sie war sehr hübsch", sagte Hanneli,
"stand in der Schule immer im Mittelpunkt und genoß es, wenn Jungen ihr nachsahen."
 
Die Freundschaft zwischen Hanneli und Anne bekam einen Riß, als Hanneli sich mit einem anderen Mädchen, aus einer religiösen Familie anfreundete und am Schabbat nach der Synagoge mit ihr spielte.
 
Miep Gies erwähnt, dass Anne leidenschaftlich gerne ins Kino ging. Anne fand offenbar großen Gefallen, vor einem Publikum in die verschiedensten Rollen zu schlüpfen. Sie konnte alles und jeden nachahmen, und das konnte sie sogar ausgezeichnet: das Miauen der Katze, die Stimme ihrer besten Freundin und den strengen Tonfall ihres Lehrers.
 
Als die Deutschen im Mai 1940 die Niederlande besetzten, war Anne knapp elf Jahre alt, als sie untertauchten war sie erst dreizehn. Schon in diesen zwei Jahren veränderte sich natürlich auch in ihrem Leben sehr viel.
Die einschneidenste Änderung war wohl, dass sie ab September 1941 die Montessori - Schule verlassen und in das Jüdische Lyzeum gehen mußte. Noch einen Abschied mußte sie in diesen Jahren erleben, für sie persönlich wichtiger als alles andere, den von ihrer Großmutter aus Aachen, die seit 1938 bei ihnen lebte und im Januar 1942 starb.
 
Ansonsten lief ihr Leben normal und unbeschwert, wie sie es selbst später, am 7. März, im Rückblick beschreibt: Wenn ich so über mein Leben von 1942 nachdenke, kommt es mir so unwirklich vor. Dieses Götterleben erlebte eine ganz andere Anne Frank als die, die hier jetzt vernünftig geworden ist. Ein Götterleben, das war es. An jedem Finger fünf Verehrer, ungefähr zwanzig Freundinnen und Bekannte, der Liebling der meisten Lehrer, verwöhnt von Vater und Mutter, viele Süßigkeiten, genug Geld - was will man mehr?
 
[...] Die Lehrer fanden meine schlauen Antworten, mein lachendes Gesicht und meinen kritischen Blick nett, amüsant und witzig. Ein paar Vorteile hatte ich, durch die ich ziemlich in der Gunst blieb, nämlich Fleiß, Ehrlichkeit und Großzügigkeit. Nie hätte ich mich geweigert, jemanden, egal wem, abschauen zu lassen, Süßigkeiten verteile ich mit offenen Händen, und ich war nicht eingebildet. [...] Ich betrachte diese Anne Frank jetzt als ein nettes, witziges, aber oberflächliches Mädchen, das nichts mehr mit mir zu tun hat. (Quelle: Fischer: S. 202)
 
Diese Selbsteinschätzung, so hart sie klingt, wird wohl der Wahrheit ziemlich nahe gekommen sein, auch wenn man sich kaum vorstellen kann, dass Kinder, vor allem jüdische Kinder, in jenen Jahren ein relativ sorgenfreies Leben führen konnten. Vermutlich haben die Eltern versucht, ihre beiden Töchter so unbeschwert wie möglich aufwachsen zu lassen. Sie sollten nicht merken, dass die Zeiten für die Erwachsenen schwerer waren. Auffallend ist, wie selbstverständlich Anne in ihrem Tagebuch von den Judengesetzen berichtet, dass sie sie einfach nur aufzählt, ohne persönlichen Kommentar. Nichts von Wut, Ärger oder Verzweiflung, noch nicht einmal ein leichtes Bedauern darüber, dass sein nun auf manches verzichten mußte. Ihre einzige Bemerkung: Jacque [ihre Freundin Jacqueline Sanders] sagte immer zu mir:
 
„ Ich traue mich nichts mehr zu machen,
ich habe Angst, dass es nicht erlaubt ist.„

(Eintragung vom 20. Juni 1942 in ihr Tagebuch)
 
Nur unter dem Datum des 24. Juni 1942 beklagt sie sich einmal darüber, dass sie bei brennender Hitze in der Mittagspause zu Fuß zum Zahnarzt gehen mußte, weil Juden nicht mehr mit der Straßenbahn fahren dürfen. Im gleichen Eintrag erwähnt Anne auch, dass ihr Vater das Fahrrad ihrer Mutter zu befreundeten Christen zur Verwahrung gebracht habe.
 
In ihrer ursprünglichen Tagebuchfassung berichtet sie während der Zeit vom Tagebuchbeginn bis zum Untertauchen lediglich darüber, was sie zum Geburtstag bekommen hat, über verschiedene Freundinnen, erwähnt auch Hello, ihren „Verehrer", und Peter Schiff, ihre Kinderliebe, den sie später heiraten wolle. Sie erzählte von ihrer Geburtstagsfeier, auf der ein Film, „Rin-tin-tin", vorgeführt wurde, und von einem Pingpong-Club, den sie zusammen mit anderen Mädchen gegründet hat. Außerdem beschreibt sie ausführlich und mit fast erbarmungsloser Genauigkeit ihre Mitschüler und Mitschülerinnen. Von ihrer eigenen Geschichte, der Geburt in Frankfurt, dem Aufenthalt in Aachen und ihrem Leben in Amsterdam, erzählt sie nur sehr knapp, ebenso vom Kindergarten, der Montessori - Schule und dem Tod der Großmutter. Sie klebt Fotos von ihrer Großmutter und Margot in ihr Tagebuch, beide Aufnahmen stammen vom Strand, dann noch ein Brief, den sie etwa drei Jahre zuvor von ihrem Vater bekommen hat.
 
Ganz offensichtlich hat Anne Frank weder gewußt noch geahnt, dass ihre Eltern schon ein Jahr lang das Untertauchen vorbereitet hatten. Auch das Gespräch mit ihrem Vater, in dem er sie auf das kommende Untertauchen vorbereitete, hat sie nachträglich eingefügt. Das die ganze Familie in ein Versteck ziehen würde, davon hat Anne erst erfahren, als der Aufruf für Margot kam, also einen Tag vorher. Sie war zwar erschrocken und fing natürlich an zu weinen, den Versteckplan jedoch akzeptierte sie widerspruchslos.
 
So sehr sie auch erschrocken war, sie schreibt nichts von Angst, nur von Kummer, dass sie Moortje, ihre geliebte Katze, zurücklassen mußte. Dass das Untertauchen für sie kein wirklich schwerer Schock war und nicht sofort zum verstörenden Trauma wurde, lag wohl vor allem an ihrer Abenteuerlust und ihrem Vergnügen an Aufregung und Abwechslung.
 
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