Kindheit
1749 - 1763
Jugend
1764-1769
Studium
1769- 1772
-
Erster
Erfolg: "Werther" 1774
Karriere
1775 - 1787
-
Familie
und Beruf 1788 - 1816
Alterswerke
1816 - 1825
Letzte
Jahre... 1826 -1832
Goethe
und Bettina von Arnim
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ins Goethehaus
Erzählung
Werthers
Leiden 1. Teil
Werthers
Leiden 2. Teil
Drama:
Faust
Zueignung-
Vorspiel
auf der Bühne
Prolog
im Himmel -
Der
Tragödie erster Teil
-
Der
Nachbarin Haus
-
Szene
YX ungelöst...
Gedichte
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Johann
Wolfgang von
Goethe
Werthers
Leiden, 1. Buch
erstellt: Juli 2000 von Martin
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- Am
26. Julius 1771
I Am
30. Julius 1771
I Am
8. August 1771
I
Abends I
Am
10. August 1771
I Am
12. August 1771
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- Am
26. Julius 1771
Seitenanfang
- Ich habe mir
schon manchmal vorgenommen, sie nicht so oft zu
sehn. Ja wer das halten könnte! Alle Tage
unterlieg' ich der Versuchung und verspreche mir
heilig: morgen willst du einmal wegbleiben. Und
wenn der Morgen kommt, finde ich doch wieder
eine unwiderstehliche Ursache, und ehe ich
mich's versehe, bin ich bei ihr. Entweder sie
hat des Abends gesagt: "Sie kommen doch morgen?"
- wer könnte da wegbleiben? Oder sie gibt
mir einen Auftrag, und ich finde schicklich, ihr
selbst die Antwort zu bringen; oder der Tag ist
gar zu schön, ich gehe nach Wahlheim, und
wenn ich nun da bin, ist's nur noch eine halbe
Stunde zu ihr! - ich bin zu nah in der
Atmosphäre - zuck! So bin ich dort. Meine
Großmutter hatte ein Märchen vom
Magnetenberg: die Schiffe, die zu nahe kamen,
wurden auf einmal alles Eisenwerks beraubt, die
Nägel flogen dem Berge zu, und die armen
Elenden scheiterten zwischen den
übereinander stürzenden
Brettern.
-
- Am
30. Julius 1771
Seitenanfang
- Albert ist
angekommen, und ich werde gehen; und wenn er der
beste, der edelste Mensch wäre, unter den
ich mich in jeder Betrachtung zu stellen bereit
wäre, so wär's unerträglich, ihn
vor meinem Angesicht im Besitz so vieler
Vollkommenheit zu sehen. - Besitz! - genug,
Wilhelm, der Bräutigam ist da! Ein braver,
lieber Mann, dem man gut sein muß.
Glücklicherweise war ich nicht beim
Empfange! Das hätte mir das Herz zerrissen.
Auch ist er so ehrlich und hat Lotten in meiner
Gegenwart noch nicht ein einzigmal
geküßt. Das lohn' ihm Gott! Um des
Respekts willen, den er vor dem Mädchen
hat, muß ich ihn lieben. Er will mir wohl,
und ich vermute, das ist Lottens Werk mehr als
seiner eigenen Empfindung; denn darin sind die
Weiber fein und haben recht; wenn sie zwei
Verehrer in gutem Vernehmen mit einander
erhalten können, ist der Vorteil immer ihr,
so selten es auch angeht.
-
- Indes kann ich
Alberten meine Achtung nicht versagen. Seine
gelassene Außenseite sticht gegen die
Unruhe meines Charakters sehr lebhaft ab, die
sich nicht verbergen läßt. Er hat
viel Gefühl und weiß, was er an
Lotten hat. Erscheint wenig üble Laune zu
haben, und du weißt, das ist die
Sünde, die ich ärger hasse am Menschen
als alle andre.
-
- Er hält
mich für einen Menschen von Sinn; und meine
Anhänglichkeit zu Lotten, meine warme
Freude, die ich an allen ihren Handlungen habe,
vermehrt seinen Triumph, und er liebt sie nur
desto mehr. Ob er sie nicht einmal mit keiner
Eifersüchtelei peinigt, das lasse ich
dahingestellt sein, wenigstens würd' ich an
seinem Platz nicht ganz sicher vor diesem Teufel
bleiben.
-
- Dem sei nun wie
ihm wolle, meine Freude, bei Lotten zu sein, ist
hin. Soll ich das Torheit nennen oder
Verblendung? - was braucht's Namen! Erzählt
die Sache an sich! - ich wußte alles, was
ich jetzt weiß, ehe Albert kam; ich
wußte, daß ich keine Prätension
an sie zu machen hatte, machte auch keine - das
heißt, insofern es möglich ist, bei
so viel Liebenswürdigkeit nicht zu begehren
- und jetzt macht der Fratze große Augen,
da der andere nun wirklich kommt und ihm das
Mädchen wegnimmt.
-
- Ich beiße
die Zähne auf einander und spott über
mein Elend, und spottete derer doppelt und
dreifach, die sagen könnten, ich sollte
mich resignieren, und weil es nun einmal nicht
anders sein könnte. - schafft mir diese
Strohmänner vom Halse! - ich laufe in den
Wäldern herum, und wenn ich zu Lotten
komme, und Albert bei ihr sitzt im Gärtchen
unter der Laube, und ich nicht weiter kann, so
bin ich ausgelassen närrisch und fange viel
Possen, viel verwirrtes Zeug an. -"um Gottes
willen", sagte mir Lotte heut, "ich bitte Sie,
keine Szene wie die von gestern abend! Sie sind
fürchterlich, wenn Sie so lustig sind". -
Unter uns, ich passe die Zeit ab, wenn er zu tun
hat; wutsch! Bin ich drauß, und da ist
mir's immer wohl, wenn ich sie allein
finde.
-
- Am
8. August 1771
Seitenanfang
- Ich bitte dich,
lieber Wilhelm, es war gewiß nicht auf
dich geredet, wenn ich die Menschen
unerträglich schalt, die von uns Ergebung
in unvermeidliche Schicksale fordern. Ich dachte
wahrlich nicht daran, daß du von
ähnlicher Meinung sein könntest. Und
im Grunde hast du recht. Nur eins, mein Bester!
In der Welt ist es sehr selten mit dem
Entweder-Oder getan; die Empfindungen und
Handlungsweisen schattieren sich so
mannigfaltig, als Abfälle zwischen einer
Habichts- und Stumpfnase sind.
-
- Du wirst mir
also nicht übelnehmen, wenn ich dir dein
ganzes Argument einräume und mich doch
zwischen dem Entweder-Oder durchzustehlen
suche.
-
- Entweder, sagst
du, hast du Hoffnung auf Lotten, oder du hast
keine. Gut, im ersten Fall suche sie
durchzutreiben, suche die Erfüllung deiner
Wünsche zu umfassen: im anderen Fall
ermanne dich und suche einer elenden Empfindung
los zu werden, die alle deine Kräfte
verzehren muß. - Bester! Das ist wohl
gesagt, und - bald gesagt.
-
- Und kannst du
von dem Unglücklichen, dessen Leben unter
einer schleichenden Krankheit unaufhaltsam
allmählich abstirbt, kannst du von ihm
verlangen, er solle durch einen Dolchstoß
der Qual auf einmal ein Ende machen? Und raubt
das Übel, das ihm die Kräfte verzehrt,
ihm nicht auch zugleich den Mut, sich davon zu
befreien?
-
- Zwar
könntest du mir mit einem verwandten
Gleichnisse antworten: wer ließe sich
nicht lieber den Arm abnehmen, als daß er
durch Zaudern und Zagen sein Leben aufs Spiel
setzte? - Ich weiß nicht! - Und wir wollen
uns nicht in Gleichnissen herumbeißen.
Genug - ja, Wilhelm, ich habe manchmal so einen
Augenblick aufspringenden, abschüttelnden
Muts, und da - wenn ich nur wüßte
wohin, ich ginge wohl
-
- Abends
Seitenanfang
- Mein Tagesuch,
das ich seit einiger Zeit vernachlässiget,
fiel mir heut wieder in die Hände, und ich
bin erstaunt, wie ich so wissentlich in das
alles, Schritt vor Schritt, hineingegangen bin!
Wie ich über meinen Zustand immer so klar
gesehen und doch gehandelt habe wie ein Kind,
jetzt noch so klar sehe, und es noch keinen
Anschein zur Besserung hat.
-
- Am
10. August 1771
Seitenanfang
- Ich könnte
das beste, glücklichste Leben führen,
wenn ich nicht ein Tor wäre. So schöne
Umstände vereinigen sich nicht leicht,
eines Menschen Seele zu ergetzen, als die sind,
in denen ich mich jetzt befinde. Ach so
gewiß ist's, daß unser Herz allein
sein Glück macht. - ein Glied der
liebenswürdigen Familie zu sein, von dem
Alten geliebt zu werden wie ein Sohn, von den
Kleinen wie ein Vater, und von Lotten! - dann
der ehrliche Albert, der durch keine launische
Unart mein Glück stört; der mich mit
herzlicher Freundschaft umfaßt; dem ich
nach Lotten das Liebste auf der Welt bin! -
Wilhelm, es ist eine Freude, uns zu hören,
wenn wir spazierengehen und uns einander von
Lotten unterhalten: es ist in der Welt nichts
Lächerlichers erfunden worden als dieses
Verhältnis, und doch kommen mir oft
darüber die Tränen in die
Augen.
-
- Wenn er mir von
ihrer rechtschaffenen Mutter erzählt: wie
sie auf ihrem Todbette Lotten ihr Haus und ihre
Kinder übergeben und ihm Lotten anbefohlen
habe, wie seit der Zeit ein ganz anderer Geist
Lotten belebt habe, wie sie, in der Sorge
für ihre Wirtschaft und in dem Ernste, eine
wahre Mutter geworden, wie kein Augenblick ihrer
Zeit ohne tätige Liebe, ohne Arbeit
verstrichen, und dennoch ihre Munterkeit, ihr
leichter Sinn sie nie dabei verlassen habe. -
Ich gehe so neben ihm hin und pflücke
Blumen am Wege, füge sie sehr
sorgfältig in einen Strauß und -
werfe sie in den vorüberfließenden
Strom und sehe ihnen nach, wie sie leise
hinunterwallen. - Ich weiß nicht, ob ich
dir geschrieben habe, daß Albert hier
bleiben und ein Amt mit einem artigen Auskommen
vom Hofe erhalten wird, wo er sehr beliebt ist.
In Ordnung und Emsigkeit in Geschäften habe
ich wenig seinesgleichen gesehen.
-
- Am
12. August 1771
Seitenanfang
- Gewiß,
Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel.
Ich habe gestern eine wunderbare Szene mit ihm
gehabt. Ich kam zu ihm, um Abschied von ihm zu
nehmen; denn mich wandelte die Lust an, ins
Gebirge zu reiten, von woher ich dir auch jetzt
schreibe, und wie ich in der Stube auf und ab
gehe, fallen mir seine Pistolen in die Augen.
-"Borge mir die Pistolen", sagte ich, "zu meiner
Reise". -"Meinetwegen", sagte er, "wenn du dir
die Mühe nehmen willst, sie zu laden; bei
mir hängen sie nur pro forma". - Ich nahm
eine herunter, und er fuhr fort: "seit mir meine
Vorsicht einen so unartigen Streich gespielt
hat, mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu tun
haben". - Ich war neugierig, die Geschichte zu
wissen. -"Ich hielt mich", erzählte er,
"wohl ein Vierteljahr auf dem Lande bei einem
Freunde auf, hatte ein paar Terzerolen ungeladen
und schlief ruhig. Einmal an einem regnichten
Nachmittage, da ich müßig sitze,
weiß ich nicht, wie mir einfällt: wir
könnten überfallen werden, wir
könnten die Terzerolen nötig haben und
könnten - du weißt ja, wie das ist. -
ich gab sie dem Bedienten, sie zu putzen und zu
laden; und der dahlt mit den Mädchen, will
sie schrecken, und Gott weiß wie, das
Gewehr geht los, da der Ladstock noch drin
steckt, und schießt den Ladstock einem
Mädchen zur Maus herein an der rechten Hand
und zerschlägt ihr den Daumen. Da hatte ich
das Lamentieren, und die Kur zu bezahlen
obendrein, und seit der Zeit lass' ich alles
Gewehr ungeladen. Lieber Schatz, was ist
Vorsicht? Die Gefahr läßt sich nicht
auslernen! Zwar. - Nun weißt du, daß
ich den Menschen sehr lieb habe bis auf seine
Zwar; denn versteht sich's nicht von selbst,
daß jeder allgemeine Satz Ausnahmen
leidet? Aber so rechtfertig ist der Mensch! Wenn
er glaubt, etwas Übereiltes, Allgemeines,
Halbwahres gesagt zu haben, so hört er dir
nicht auf zu limitieren, zu modifizieren und ab-
und zuzutun, bis zuletzt gar nichts mehr an der
Sache ist.
-
- Und bei diesem
Anlaß kam er sehr tief in Text: ich
hörte endlich gar nicht weiter auf ihn,
verfiel in Grillen, und mit einer auffahrenden
Gebärde drückte ich mir die
Mündung der Pistole übers rechte Aug'
an die Stirn. -"Pfui!" sagte Albert, indem er
mir die Pistole herabzog, "was soll das?" - "Sie
ist nicht geladen", sagte ich. -"Und auch so,
was soll's?" versetzte er ungeduldig. "Ich kann
mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so
töricht sein kann, sich zu
erschießen; der bloße Gedanke erregt
mir Widerwillen".
-
- "Daß ihr
Menschen", rief ich aus, "um von einer Sache zu
reden, gleich sprechen müßt: 'das ist
töricht, das ist klug, das ist gut, das ist
bös!' und was will das alles heißen?
Habt ihr deswegen die innern Verhältnisse
einer Handlung erforscht? Wißt ihr mit
Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum
sie geschah, warum sie geschehen mußte?
Hättet ihr das, ihr würdet nicht so
eilfertig mit euren Urteilen sein". "Du wirst
mir zugeben", sagte Albert, "daß gewisse
Handlungen lasterhaft bleiben, sie mögen
geschehen, aus welchem Beweggrunde sie wollen".
Ich zuckte die Achseln und gab's ihm zu. -"Doch,
mein Lieber", fuhr ich fort, "finden sich auch
hier einige Ausnahmen. Es ist wahr, der
Diebstahl ist ein Laster: aber der Mensch, der,
um sich und die Seinigen vom gegenwärtigen
Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht,
verdient der Mitleiden oder Strafe? Wer hebt den
ersten Stein auf gegen den Ehemann, der im
gerechten Zorne sein untreues Weib und ihren
nichtswürdigen Verführer aufopfert?
Gegen das Mädchen, das in einer wonnevollen
Stunde sich in den unaufhaltsamen Freuden der
Liebe verliert? Unsere Gesetze selbst, diese
kaltblütigen Pedanten, lassen sich
rühren und halten ihre Strafe
zurück".
-
- "Das ist ganz
was anders", versetzte Albert, "weil ein Mensch,
den seine Leidenschaften hinreißen, alle
Besinnungskraft verliert und als ein Trunkener,
als ein Wahnsinniger angesehen wird". "Ach ihr
vernünftigen Leute!" rief ich lächelnd
aus. "Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr
steht so gelassen, so ohne Teilnehmung da, ihr
sittlichen Menschen, scheltet den Trinker,
verabscheut den Unsinnigen, geht vorbei wie der
Priester und dankt Gott wie der Pharisäer,
daß er euch nicht gemacht hat wie einen
von diesen. Ich bin mehr als einmal trunken
gewesen, meine Leidenschaften waren nie weit vom
Wahnsinn, und beides reut mich nicht: denn ich
habe in einem Maße begreifen lernen, wie
man alle außerordentlichen Menschen, die
etwas Großes, etwas
Unmöglichscheinendes wirkten, von jeher
für Trunkene und Wahnsinnige ausschreiten
mußte. Aber auch im gemeinen Leben ist's
unerträglich, fast einem jeden bei halbweg
einer freien, edlen, unerwarteten Tat nachrufen
zu hören: ' der Mensch ist trunken, der ist
närrisch!' Schämt euch, ihr
Nüchternen! Schämt euch, ihr Weisen!"
"Das sind nun wieder von deinen Grillen", sagte
Albert, "du überspannst alles und hast
wenigstens hier gewiß unrecht, daß
du den Selbstmord, wovon jetzt die Rede ist, mit
großen Handlungen vergleichst: da man es
doch für nichts anders als eine
Schwäche halten kann. Denn freilich ist es
leichter zu sterben, als ein qualvolles Leben
standhaft zu ertragen". Ich war im Begriff
abzubrechen; denn kein Argument bringt mich so
aus der Fessung, als wenn einer mit einem
unbedeutenden Gemeinspruche angezogen kommt,
wenn ich aus ganzem Herzen rede.
-
- Doch
faßte ich mich, weil ich's schon oft
gehört und mich öfter darüber
geärgert hatte, und versetzte ihm mit
einiger Lebhaftigkeit: "Du nennst das
Schwäche? Ich bitte dich, laß dich
vom Anscheine nicht verführen. Ein Volk,
das unter dem unerträglichen Joch eines
Tyrannen seufzt, darfst du das schwach
heißen, wenn es endlich aufgärt und
seine Ketten zerreißt? Ein Mensch, der
über dem Schrecken, daß Feuer sein
Haus ergriffen hat, alle Kräfte gespannt
fühlt und mit Leichtigkeit Lasten
wegträgt, die er bei ruhigem Sinne kaum
bewegen kann; einer, der in der Wut der
Beleidigung es mit sechsen aufnimmt und sie
überwältig, sind die schwach zu
nennen? Und, mein Guter, wenn Anstrengung
Stärke ist, warum soll die
Überspannung das Gegenteil sein?" - Albert
sah mich an und sagte: "nimm mir's nicht
übel, die Beispiele, die du gibst, scheinen
hieher gar nicht zu gehören". -"Es mag
sein", sagte ich, "man hat mir schon öfters
vorgeworfen, daß meine Kombinationsart
manchmal an Radotage grenze. Laßt uns denn
sehen, ob wir uns auf eine andere Weise
vorstellen können, wie dem Menschen zu Mute
sein mag, der sich entschließt, die sonst
angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen. Denn
nur insofern wir mitempfinden, haben wir die
Ehre, von einer Sache zu reden".
-
- "Die
menschliche Natur", fuhr ich fort, "hat ihre
Grenzen: sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis
auf einen gewissen Grad ertragen und geht
zugrunde, sobald der überstiegen ist. Hier
ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder
stark ist, sondern ob er das Maß seines
Leidens ausdauern kann, es mag nun moralisch
oder körperlich sein. Und ich finde es
ebenso wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige,
der sich das Leben nimmt, als es ungehorig
wäre, den einen Feigen zu nennen, der an
einem bösartigen Fieber
stirbt".
- "Paradox! Sehr
paradox!" rief Albert aus. -"Nicht so sehr, als
du denkst", versetzte ich. "Du gibst mir zu, wir
nennen das eine Krankheit zum Tode, wodurch die
Natur so angegriffen wird, daß teils ihre
Kräfte verzehrt, teils so außer
Wirkung gesetzt werden, daß sie sich nicht
wieder aufzuhelfen, durch keine glückliche
Revolution den gewöhnlichen Umlauf des
Lebens wieder herzustellen fähig
ist.
-
- Nun, mein
Lieber, laß uns das auf den Geist
anwenden. Sich den Menschen an in seiner
Eingeschränktheit, wie Eindrücke auf
ihn wirken, Ideen sich bei ihm festsetzen, bis
endlich eine wachsende Leidenschaft ihn aller
ruhigen Sinneskraft beraubt und ihn zugrunde
richtet.
-
- Vergebens,
daß der gelassene, vernünftige Mensch
den Zustand Unglücklichen übersieht,
vergebens, daß er ihm zuredet! Ebenso wie
ein Gesunder, der am Bette des Kranken steht,
ihm von seinen Kräften nicht das geringste
einflößen kann".
-
- Alberten war
das zu allgemein gesprochen. Ich erinnerte ihn
an ein Mädchen, das man vor weniger Zeit im
Wasser tot gefunden, und wiederholte ihm ihre
Geschichte. -"Ein gutes, junges Geschöpf,
das in dem engen Kreise häuslicher
Beschäftigungen, wöchentlicher
bestimmter Arbeit herangewachsen war, das weiter
keine Aussicht von Vergnügen kannte, als
etwa Sonntags in einem nach und nach
zusammengeschafften Putz mit ihresgleichen um
die Stadt spazierenzugehen, vielleicht alle
hohen Feste einmal zu tanzen und übrigens
mit aller Lebhaftigkeit des herzlichsten Anteils
manche Stunde über den Anlaß eines
Gezänkes, einer übeln Nachrede mit
einer Nachbarin zu verplaudern - deren feurige
Natur fühlt nun endlich innigere
Bedürfnisse, die durch die Schmeicheleien
der Männer vermehrt werden; ihre vorigen
Freuden werden ihr nach und nach unschmackhaft,
bis sie endlich einen Menschen antrifft, zu dem
ein unbekanntes Gefühl sie unwiderstehlich
hinreißt, auf den sie nun alle ihre
Hoffnungen wirft, die Welt rings um sich
vergißt, nichts hört, nichts sieht,
nichts fühlt als ihn, den Einzigen, sich
nur sehnt nach ihm, dem Einzigen. Durch die
leeren Vergnügungen einer
unbeständigen Eitelkeit nicht verdorben,
zieht ihr Verlangen gerade nach dem Zweck, sie
will die Seinige werden, sie will in ewiger
Verbindung all das Glück antreffen, das ihr
mangelt, die Vereinigung aller Freuden
genießen, nach denen sie sich sehnte.
Wiederholtes Versprechen, das ihr die
Gewißheit aller Hoffnungen versiegelt,
kühne Liebkosungen, die ihre Begierden
vermehren, umfangen ganz ihre Seele; sie schwebt
in einem dumpfen Bewußtsein, in einem
Vorgefühl aller Freuden, sie ist bis auf
den höchsten Grad gespannt, sie streckt
endlich ihre Arme aus, all ihre Wünsche zu
umfassen - und ihr Geliebter verläßt
sie. - Erstarrt, ohne Sinne steht sie vor einem
Abgrunde; alles ist Finsternis um sie her, keine
Aussicht, kein Trost, keine Ahnung! Denn der hat
sie verlassen, in dem sie allein ihr Dasein
fühlte. Sie sieht nicht die weite Welt, die
vor ihr liegt, nicht die vielen, die ihr de
Verlust ersetzen könnten, sie fühlt
sich allein, verlassen von aller Welt, - und
blind, in die Enge gepreßt von der
entsetzlichen Not ihres Herzens, stürzt sie
sich hinunter, um in einem rings umfangenden
Tode alle ihre Qualen zu ersticken. - Sieh,
Albert, das ist die Geschichte so manches
Menschen! Und sag', ist das nicht der Fall der
Krankheit? Die Natur findet keinen Ausweg aus
dem Labyrinthe der verworrenen und
widersprechenden Kräfte, und der Mensch
muß sterben. Wehe dem, der zusehen und
sagen könnte: 'die Törin! Hätte
sie gewartet, hätte sie die Zeit wirken
lassen, die Verzweifelung würde sich schon
gelegt, es würde sich schon ein anderer sie
zu trösten vorgefunden haben.' - Das ist
eben, als wenn einer sagte: 'der Tor, stirbt am
Fieber! Hätte er gewartet, bis seine
Kräfte sich erholt, seine Säfte sich
verbessert, der Tumult seines Blutes sich gelegt
hätten: alles wäre gut gegangen, und
er lebte bis auf den heutigen Tag!'"
-
- Albert, dem die
Vergleichung noch nicht anschaulich war, wandte
noch einiges ein, und unter andern: ich
hätte nur von einem einfältigen
Mädchen gesprochen; wie aber ein Mensch von
Verstande, der nicht so eingeschränkt sei,
der mehr Verhältnisse übersehe, zu
entschuldigen sein möchte, könne er
nicht begreifen. -"Mein Freund", rief ich aus,
"der Mensch ist Mensch, und das bißchen
Verstand, das einer haben mag, kommt wenig oder
nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wütet
und die Grenzen der Menschheit einen
drängen. Vielmehr - ein andermal davon",
sagte ich und griff nach meinem Hute. O mir war
das Herz so voll - und wir gingen auseinander,
ohne einander verstanden zu haben. Wie denn auf
dieser Welt keiner leicht den andern
versteht.
-
-
weiter
zum 15. August 1771
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