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erstellt: Juli 2000 von Martin Schlu
Johann Wolfgang von Goethe
Werthers Leiden, 2. Buch
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Am 20. Januar
1772 I Am 8.
Februar 1772 I Am
17. Februar 1772 I
Am 20. Februar 1772 I Am
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Am
20. Januar 1772
Ich muß Ihnen schreiben, liebe Lotte, hier
in der Stube einer geringen Bauernherberge, in die
ich mich vor einem schweren Wetter geflüchtet
habe. Solange ich in dem traurigen Nest D..., unter
dem fremden, meinem Herzen ganz fremden Volke
herumziehe, habe ich keinen Augenblick gehabt,
keinen, an dem mein Herz mich geheißen
hätte, Ihnen zu schreiben; und jetzt in dieser
Hütte, in dieser Einsamkeit, in dieser
Einschränkung, da Schnee und Schloßen
wider mein Fensterchen wüten, hier waren Sie
mein erster Gedanke. Wie ich hereintrat,
überfiel mich Ihre Gestalt, Ihr Andenken, o
Lotte! So heilig, so warm! Guter Gott! Der erste
glückliche Augenblick wieder.
Wenn Sie mich sähen, meine Beste, in dem
Schwall von Zerstreuung! Wie ausgetrocknet meine
Sinne werden! Nicht einen Augenblick der Fülle
des Herzens, nicht eine selige Stunde! Nichts!
Nichts! Ich stehe wie vor einem
Raritärenkasten und sehe die Männchen und
Gäulchen vor mir herumrücken, und frage
mich oft, ob es nicht optischer Betrug ist. Ich
spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt wie eine
Marionette und fasse manchmal meinen Nachbar an der
hölzernen Hand und schaudere zurück. Des
Abends nehme ich mir vor, den Sonnenaufgang zu
genießen, und komme nicht aus dem Bette; am
Tge hoffe ich, mich des Mondscheins zu erfreuen,
und bleibe in meiner Stube. Ich weiß nicht
recht, warum ich aufstehe, warum ich schlafen
gehe.
Der Sauerteig, der mein Leben in Bewegung
setzte, fehlt; der Reiz, der mich in tiefen
Nächten munter erhielt, ist hin, der mich des
Morgens aus dem Schlafe weckte, ist weg.
Ein einzig weibliches Geschöpf habe ich
hier gefunden, eine Fräulein von B..., sie
gleicht Ihnen, liebe Lotte, wenn man Ihnen gleichen
kann". "Ei!"werden Sie sagen,"der Mensch legt sich
auf niedliche Komplimente!"ganz unwahr ist es
nicht. Seit einiger Zeit bin ich sehr artig, weil
ich doch nicht anders sein kann, habe viel Witz,
und die Frauenzimmer sagen, es wüßte
niemand so fein zu loben als ich (und zu
lügen, setzen Sie hinzu, denn ohne das geht es
nicht ab, verstehen Sie?). Ich wollte von
Fräulein B... reden. Sie hat viel Seele, die
voll aus ihren blauen Augen hervorblickt. Ihr Stand
ist ihr zur Last, der keinen der Wünsche ihres
Herzens befriedigt. Sie sehnt sich aus dem
Getümmel, und wir verphantasieren manche
Stunde in ländlichen Szenen von ungemischter
Glückseligkeit; ach! und von Ihnen! Wie oft
muß sie Ihnen huldigen, muß nicht, tut
es freiwillig, hört so gern von Ihnen, liebt
Sie. -
O säß' ich zu Ihren Füßen
in dem lieben, vertraulichen Zimmerchen, und unsere
kleinen Lieben wälzten sich mit einander um
mich herum, und wenn sie Ihnen zu laut würden,
wollte ich sie mit einem schauerlichen Märchen
um mich zur Ruhe versammeln.
Die Sonne geht herrlich unter über der
schneeglänzenden Gegend, der Sturm ist
hinüber gezogen, und ich - muß mich
wieder in meinen Käfig sperren. - Adieu! Ist
Albert bei Ihnen? Und wie -? Gott verzeihe mir
diese Frage!
Am
8. Februar 1772
Seitenanfang
Wir haben seit acht Tagen das abscheulichste
Wetter, und mir ist es wohltätig. Denn so lang
ich hier bin, ist mir noch kein schöner Tag am
Himmel erschienen, den mir nicht jemand verdorben
oder verleidet hätte. Wenn's nun recht regnet
und stöbert und fröstelt und taut: ha!
Denk' ich, kann's doch zu Hause nicht schlimmer
werden, als es draußen ist, oder umgekehrt,
und so ist's gut. Geht die Sonne des Morgens auf
und verspricht einen feinen Tag, erwehr' ich mir
niemals auszurufen: da haben sie doch wieder ein
himmlisches Gut, worum sie einander bringen
können! Es ist nichts, worum sie einander
nicht bringen. Gesundheit, guter Name, Freudigkeit,
Erholung! Und meist aus Albernheit, Unbegriff und
Enge und, wenn man sie anhört, mit der besten
Meinung. Manchmal möcht' ich sie auf den
Knieen bitten, nicht so rasend in ihre eigenen
Eingeweide zu wüten.
Am
17. Februar 1772
Seitenanfang
Ich fürchte, mein Gesandter und ich halten
es zusammen nicht mehr lange aus. Der Mann ist ganz
und gar unerträglich. Seine Art zu arbeiten
und Geschäfte zu treiben ist so
lächerlich, daß ich mich nicht enthalten
kann, ihm zu widersprechen und oft eine Sache nach
meinem Kopf und meiner Art zu machen, das ihm denn,
wie natürlich, niemals recht ist. Darüber
hat er mich neulich bei Hofe verklagt, und der
Minister gab mir einen zwar sanften Verweis, aber
es war doch ein Verweis, und ich stand im Begriffe,
meinen Abschied zu begehren, als ich einen
Privatbrief von ihm erhielt, einen Brief, vor dem
ich niedergekniet, und den hohen, edlen, weisen
Sinn angebetet habe. Wie er meine allzu große
Empfindlichkeit zurechtweiset, wie er meine
überspannten Ideen von Wirksamkeit, von
Einfluß auf andere, von Durchdringen in
Geschäften als jugendlichen guten Mut zwar
ehrt, sie nicht auszurotten, nur zu mildern und
dahin zu leiten sucht, wo sie ihr wahres Spiel
haben, ihre kräftige Wirkung tun können.
Auch bin ich auf acht Tage gestärkt und in mir
selbst einig geworden. Die Ruhe der Seele ist ein
herrliches Ding und die Freude an sich selbst.
Lieber Freund, wenn nur das Kleinod nicht eben so
zerbrechlich wäre, als es schön und
kostbar ist.
Am
20. Februar 1772
Seitenanfang
Gott segne euch, meine Lieben, geb' euch alle
die guten Tage, die er mir abzieht!
Ich danke dir, Albert, daß du mich
betrogen hast: ich wartete auf Nachricht, wann euer
Hochzeitstag sein würde, und hatte mir
vorgenommen, feierlichst an demselben Lottens
Schattenriß von der Wand zu nehmen und ihn
unter andere Papiere zu begraben. Nun seid ihr ein
Paar, und ihr Bild ist noch hier! Nun, so soll es
bleiben! Und warum nicht? Ich weiß, ich bin
ja auch bei euch, bin dir unbeschadet in Lottens
Herzen, habe, ja ich habe den zweiten Platz darin
und will und muß ihn behalten. O ich
würde rasend werden, wenn sie vergessen
könnte - Albert, in dem Gedanken liegt eine
Hölle. Albert, leb' wohl! Leb' wohl, Engel des
Himmels! Leb' wohl, Lotte!
Am
15. März 1772
Seitenanfang
Ich habe einen Verdruß gehabt, der mich
von hier wegtreiben wird. Ich knirsche mit den
Zähnen! Teufel! Er ist nicht zu ersetzen, und
ihr seid doch allein schuld daran, die ihr mich
sporntet und triebt und quältet, mich in einen
Posten zu begeben, der nicht nach meinem Sinne war.
Nun habe ich's! Nun habt ihr's! Und daß du
nicht wieder sagst, meine überspannten Ideen
verdürben alles, so hast du hier, lieber Herr,
eine Erzählung, plan und nett, wie ein
Chronikenschreiber das aufzeichnen würde.
Der Graf von C... liebt mich, distinguiert mich,
das ist bekannt, das habe ich dir schon hundertmal
gesagt. Nun war ich gestern bei ihm zu Tafel, eben
an dem Tage, da abends die noble Gesellschaft von
Herren und Frauen bei ihm zusammenkommt, an die ich
nie gedacht habe, auch mir nie aufgefallen ist,
daß wir Subalternen nicht hineingehören.
Gut. Ich speise bei dem Grafen, und nach Tische
gehn wir in dem großen Saal auf und ab, ich
rede mit ihm, mit dem Obristen B..., der dazu
kommt, und so rückt die Stunde der
Gesellschaft heran. Ich denke, Gott weiß, an
nichts. Da tritt herein die übergnädige
Dame von S... mit ihrem Herrn Gemahl und wohl
ausgebrüteten Gänslein Tochter mit der
flachen Brust und niedlichem Schnürleibe,
machen en passant ihre hergebrachten, hochadeligen
Augen und Naslöcher, und wie mir die Nation
von Herzen zuwider ist, wollte ich mich eben
empfehlen und wartete nur, bis der Graf vom
garstigen Gewäsche frei wäre, als meine
Fräulein B. hereintrat. Da mir das Herz immer
ein bißchen aufgeht, wenn ich sie sehe, blieb
ich eben, stellte mich hinter ihren Stuhl und
bemerkte erst nach einiger Zeit, daß sie mit
weniger Offenheit als sonst, mit einiger
Verlegenheit mit mir redete. Das fiel mir auf. Ist
sie auch wie all das Volk, dacht' ich, und war
angestochen und wollte gehen, und doch blieb ich,
weil ich sie gerne entschuldigt hätte und es
nicht glaubte und noch ein gut Wort von ihr hoffte
und - was du willst. Unterdessen füllte sich
die Gesellschaft. Der Baron F. mit der ganzen
Garderobe von den Krönungszeiten Franz des
Ersten her, der Hofrat R..., hier aber in qualitate
Herr von R... genannt, mit seiner tauben Frau etc.,
den übel fournierten J... nicht zu vergessen,
der die Lücken seiner altfränkischen
Garderobe mit neumodischen Lappen ausflickt, das
kommt zu Hauf, und ich rede mit einigen meiner
Bekanntschaft, die alle sehr lakonisch sind. Ich
dachte - und gab nur auf meine B... acht. Ich
merkte nicht, daß die Weiber am Ende des
Saales sich in die Ohren flüsterten, daß
es auf die Männer zirkulierte, daß Frau
von S. mit dem Grafen redete (das alles hat mir
Fräulein B. nachher erzählt), bis endlich
der Graf auf mich losging und mich in ein Fenster
nahm. -"Sie wissen", sagt' er,"unsere wunderbaren
Verhältnisse; die Gesellschaft ist
unzufrieden, merkte ich, Sie hier zu sehn. Ich
wollte nicht um alles" - "Ihre Exzellenz", fiel ich
ein,"ich bitte tausendmal um Verzeihung; ich
hätte eher dran denken sollen, und ich
weiß, Sie vergeben mir diese Inkonsequenz;
ich wollte schon vorhin mich empfehlen. Ein
böser Genius hat mich zurückgehalten".
Setzte ich lächelnd hinzu, indem ich mich
neigte. - Der Graf drückte meine Hände
mit einer Empfindung, die alles sagte. Ich strich
mich sacht aus der vornehmen Gesellschaft, ging,
setzte mich in ein Kabriolett und fuhr nach M.,
dort vom Hügel die Sonne untergehen zu sehen
und dabei in meinem Homer den herrlichen Gesang zu
lesen, wie Ulyß von dem trefflichen
Schweinehirten bewirtet wird. Das war alles
gut.
Des Abends komm' ich zurück zu Tische, es
waren noch wenige in der Gaststube; die
würfelten auf einer Ecke, hatten das Tischtuch
zurückgeschlagen. Da kommt der ehrliche Adelin
hinein, legt seinen Hut nieder, indem er mich
ansieht, tritt zu mir und sagt leise:"du hast
Verdruß gehabt?"-"ich?"sagt' ich. -"Der Graf
hat dich aus der Gesellschaft gewiesen". -"Hol' sie
der Teufel!"sagt' ich,"mir war's lieb, daß
ich in die freie Luft kam". -"Gut,"sagt'
er,"daß du's auf die leichte Achsel nimmst.
Nur verdrießt mich's, es ist schon
überall herum". - da fing mich das Ding erst
an zu wurmen. Alle, die zu Tisch kamen und mich
ansahen, dachte ich, die sehen dich darum an! Das
gab böses Blut.
Und da man nun heute gar, wo ich hintrete, mich
bedauert, da ich höre, daß meine Neider
nun triumphieren und sagen: da sähe man's, wo
es mit den Übermütigen hinausginge, die
sich ihres bißchen Kopfs überhöben
und glaubten, sich darum über alle
Verhältnisse hinaussetzen zu dürfen, und
was des Hundegeschwätzes mehr ist - da
möchte man sich ein Messer ins Herz bohren;
denn man rede von Selbständigkeit was man
will, den will ich sehen, der dulden kann,
daß Schurken über ihn reden, wenn sie
einen Vorteil über ihn haben; wenn ihr
Geschwätze leer ist, ach da kann man sie
leicht lassen.
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