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erstellt: Juli 2000 von Martin Schlu
Johann Wolfgang von Goethe
Werthers Leiden, 2. Buch
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Am 16.
März 1772 I Am
24. März 1772 I Am
19. April 1772 I
Am 5. Mai 1772 I Am
9. Mai 1772 I >>
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Am
16. März 1772
Es hetzt mich alles. Heut' treff' ich die
Fräulein B... in der Allee, ich konnte mich
nicht enthalten, sie anzureden und ihr, sobald wir
etwas entfernt von der Gesellschaft waren, meine
Empfindlichkeit über ihr neuliches Betragen zu
zeigen. - "O Werther", sagte sie mit einem innigen
Tone," konnten Sie meine Verwirrung so auslegen, da
Sie mein Herz kennen? Was ich gelitten habe um
Ihretwillen, von dem Augenblicke an, da ich in den
Saal trat! Ich sah alles voraus, hundertmal
saß mir's auf der Zunge, es Ihnen zu sagen.
Ich wußte, daß die von S... und T...
mit ihren Männern eher aufbrechen würden,
als in Ihrer Gesellschaft zu bleiben; ich
wußte, daß der Graf es mit ihnen nicht
verderben darf, - und jetzt der Lärm!" - "
wie, Fräulein?" sagt' ich und verbarg meinen
Schrecken; denn alles, was Adelin mir ehegestern
gesagt hatte, lief mir wie siedend Wasser durch die
Adern in diesem Augenblicke. - "Was hat mich es
schon gekostet!"sagte das süße
Geschöpf, indem ihr die Tränen in den
Augen standen. - Ich war nicht Herr mehr von mir
selbst, war im Begriffe, mich ihr zu
Füßen zu werfen. - "Erklären Sie
sich!" rief ich. - Die Tränen liefen ihr die
Wangen herunter. Ich war außer mir. Sie
trocknete sie ab, ohne sie verbergen zu wollen. -
"Meine Tante kennen Sie," fing sie an, "sie war
gegenwärtig und hat - o, mit was für
Augen hat sie das angesehen! Werther, ich habe
gestern nacht ausgestanden und heute früh eine
Predigt über meinen Umgang mit Ihnen, und ich
habe müssen zuhören Sie herabsetzen,
erniedrigen, und konnte und durfte Sie nur halb
verteidigen". Jedes Wort, das sie sprach, ging mir
wie ein Schwert durchs Herz. Sie fühlte nicht,
welche Barmherzigkeit es gewesen wäre, mir das
alles zu verschweigen, und nun fügte sie noch
hinzu, was weiter würde geträtscht
werden, was eine Art Menschen darüber
triumphieren würde.
Wie man sich nunmehr über die Strafe meines
Übermuts und meiner Geringschätzung
anderer, die sie mir schon lange vorwerfen, kitzeln
und freuen würde. Das alles, Wilhelm, von ihr
zu hören, mit der Stimme der wahrsten
Teilnehmung - ich war zerstört und bin noch
wütend in mir. Ich wollte, daß sich
einer unterstünde, mir's vorzuwerfen,
daß ich ihm den Degen durch den Leib
stoßen könnte; wenn ich Blut sähe,
würde mir's besser werden. Ach, ich hab'
hundertmal ein Messer ergriffen, um diesem
gedrängten Herzen Luft zu machen. Man
erzählt von einer edlen Art Pferde, die, wenn
sie schrecklich erhitzt und aufgejagt sind, sich
selbst aus Instinkt eine Ader aufbeißen, um
sich zum Atem zu helfen. So ist mir's oft, ich
möchte mir eine Ader öffnen, die mir die
ewige Freiheit schaffte.
Am
24. März 1772
Seitenanfang
Ich habe meine Entlassung vom Hofe verlangt und
werde sie, hoffe ich, erhalten, und ihr werdet mir
verzeihen, daß ich nicht erst Erlaubnis dazu
bei euch geholt habe. Ich mußte nun einmal
fort, und was ihr zu sagen hattet, um mir das
Bleiben einzureden, weiß ich alles, und also
- bringe das meiner Mutter in einem Säftchen
bei, ich kann mir selbst nicht helfen, und sie mag
sich gefallen lassen, wenn ich ihr auch nicht
helfen kann. Freilich muß es ihr wehe tun.
Den schönen Lauf, den ihr Sohn gerade zum
Geheimenrat und Gesandten ansetzte, so auf einmal
Halte zu sehen, und rückwärts mit dem
Tierchen in den Stall! Macht nun daraus, was ihr
wollt, und kombiniert die möglichen
Fälle, unter denen ich hätte bleiben
können und sollen; genug, ich gehe, und damit
ihr wißt, wo ich hinkomme, so ist hier der
Fürst **, der vielen Geschmack an meiner
Gesellschaft findet; der hat mich gebeten, da er
von meiner Absicht hörte, mit ihm auf seine
Güter zu gehen und den schönen
Frühling da zuzubringen. Ich soll ganz mir
selbst gelassen sein, hat er mir versprochen, und
da wir uns zusammen bis auf einen gewissen Punkt
verstehn, so will ich es denn auf gut Glück
wagen und mit ihm gehen.
Am
19. April 1772
Seitenanfang
Zur Nachricht
Am 19. April
Danke für deine beiden Briefe. Ich
antwortete nicht, weil ich dieses Blatt liegen
ließ, bis mein Abschied vom Hofe da
wäre; ich fürchtete, meine Mutter
möchte sich an den Minister wenden und mir
mein Vorhaben erschweren. Nun aber ist es
geschehen, mein Abschied ist da. Ich mag euch nicht
sagen, wie ungern man mir ihn gegeben hat, und was
mir der Minister schreibt - ihr würdet in neue
Lamentationen ausbrechen. Der Erbprinz hat mir zum
Abschiede fünfundzwanzig Dukaten geschickt,
mit einem Wort, das mich bis zu Tränen
gerührt hat; also brauche ich von der Mutter
das Geld nicht, um das ich neulich schrieb.
Am
5. Mai 1772
Seitenanfang
Morgen gehe ich von hier ab, und weil mein
Geburtsort nur sechs Meilen vom Wege liegt, so will
ich den auch wiedersehen, will mich der alten,
glücklich verträumten Tage erinnern. Zu
eben dem Tore will ich hinein gehn, aus dem meine
Mutter mit mir heraus fuhr, als sie nach dem Tode
meines Vaters den lieben, vertraulichen Ort
verließ, um sich in ihre unerträgliche
Stadt einzusperren. Adieu, Wilhelm, du sollst von
meinem Zuge hören.
Am
9. Mai 1772
Seitenanfang
Ich habe die Wallfahrt nach meiner Heimat mit
aller Andacht eines Pilgrims vollendet, und manche
unerwarteten Gefühle haben mich ergriffen. An
der großen Linde, die eine Viertelstunde vor
der Stadt nach S... zu steht, ließ ich
halten, stieg aus und hieß den Postillon
fortfahren, um zu Fuße jede Erinnerung ganz
neu, lebhaft, nach meinem Herzen zu kosten. Da
stand ich nun unter der Linde, die ehedem, als
Knabe, das Ziel und die Grenze meiner
Spaziergänge gewesen. Wie anders! Damals
sehnte ich mich in glücklicher Unwissenheit
hinaus in die unbekannte Welt, wo ich für mein
Herz so viele Nahrung, so vielen Genuß
hoffte, meinen strebenden, sehnenden Busen
auszufüllen und zu befriedigen. Jetzt komme
ich zurück aus der weiten Welt - o mein
Freund, mit wie viel fehlgeschlagenen Hoffnungen,
mit wie viel zerstörten Planen! - Ich sah das
Gebirge vor mir liegen, das tausendmal der
Gegenstand meiner Wünsche gewesen war.
Stundenlang konnt' ich hier sitzen und mich
hinüber sehnen, mit inniger Seele mich in den
Wäldern, den Tälern verlieren, die sich
meinen Augen so freundlich-dämmernd
darstellten; und wenn ich dann um die bestimmte
Zeit wieder zurück mußte, mit welchem
Widerwillen verließ ich nicht den lieben
Platz! - Ich kam der Stadt näher, alle die
alten, bekannten Gartenhäuschen wurden von mir
gegrüßt, die neuen waren mir zuwider, so
auch alle Veränderungen, die man sonst
vorgenommen hatte. Ich trat zum Tor hinein und fand
mich doch gleich und ganz wieder. Lieber, ich mag
nicht ins Detail gehn; so reizend, als es mir war,
so einförmig würde es in der
Erzählung werden. Ich hatte beschlossen, auf
dem Markte zu wohnen, gleich neben unserem alten
Haus. Im Hingehen bemerkte ich, daß die
Schulstube, wo ein ehrliches altes Weib unsere
Kindheit zusammengepfercht hatte, in einen
Kramladen verwandelt war. Ich erinnere mich der
Unruhe, der Tränen, der Dumpfheit des Sinnes,
der Herzensangst, die ich in dem Loche ausgestanden
hatte. - ich tat keinen Schritt, der nicht
merkwürdig war. Ein Pilger im heiligen Lande
trifft nicht so viele Stätten religiöser
Erinnerungen an, und seine Seele ist schwerlich so
voll heiliger Bewegung. - Noch eins für
tausend. Ich ging den Fluß hinab, bis an
einen gewissen Hof; das war sonst auch mein Weg,
und die Plätzchen, wo wir Knaben uns
übten, die meisten Sprünge der flachen
Steine im Wasser hervorzubringen. Ich erinnerte
mich so lebhaft, wenn ich manchmal stand und dem
Wasser nachsah, mit wie wunderbaren Ahnungen ich es
verfolgte, wie abenteuerlich ich mir die Gegenden
vorstellte, wo es nun hinflösse, und wie ich
da sobald Grenzen meiner Vorstellungskraft fand;
und doch mußte das weiter gehen, immer
weiter, bis ich mich ganz in dem Anschauen einer
unsichtbaren Ferne verlor. - Sieh, mein Lieber, so
beschränkt und so glücklich waren die
herrlichen Altväter! So kindlich ihr
Gefühl, ihre Dichtung! Wenn sie von dem
ungemeßnen Meer und von der unendlichen Erde
spricht, das ist so wahr, menschlich, innig, eng
und geheimnisvoll. Was hilft mich's, daß ich
jetzt mit jedem Schulknaben nachsagen kann,
daß sie rund sei? Der Mensch braucht nur
wenige Erdschollen, um drauf zu genießen,
weniger, um drunter zu ruhen. Nun bin ich hier, auf
dem fürstlichen Jagdschloß. Es
läßt sich noch ganz wohl mit dem Herrn
leben, er ist wahr und einfach. Wunderliche
Menschen sind um ihn herum, die ich gar nicht
begreife. Sie scheinen keine Schelmen und haben
doch auch nicht das Ansehen von ehrlichen Leuten.
Manchmal kommen sie mir ehrlich vor, und ich kann
ihnen doch nicht trauen. Was mir noch leid tut,
ist, daß er oft von Sachen redet, die er nur
gehört und gelesen hat, und zwar aus eben dem
Gesichtspunkte, wie sie ihm der andere vorstellen
mochte. Auch schätzt er meinen Verstand und
meine Talente mehr als dies Herz, das doch mein
einziger Stolz ist, das ganz und alles Elendes.
Ach, was ich weiß, kann jeder wissen - mein
Herz habe ich allein.
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zum 25. Mai 1772
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