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erstellt: Juli 2000 von Martin Schlu
Johann Wolfgang von Goethe
Werthers Leiden, 2. Buch
Seite
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Seite 2
Empfehlenswerte Werkausgabe
für die Schule:
Johann Wolfgang von Goethe: Werthers Leiden.
Editionen mit Materialien. Klett-Verlag,
München 2003,
ISBN 3 - 12 - 351911 - 2, Preis: EUR 4,50.-
(
Billiger als ein guter
Ausdruck)
Am 20. Oktober
1771 I Am 26.
November 1771 I Am
24. Dezember 1771 I
Am 8. Januar 1772 I >>
weiter
Am
20. Oktober 1771
Gestern sind wir hier angelangt. Der Gesandte
ist unpaß und wird sich also einige Tage
einhalten. Wenn er nur nicht so unhold wäre,
wär' alles gut. Ich merke, ich merke, das
Schicksal hat mir harte Prüfungen zugedacht.
Doch gutes Muts! Ein leichter Sinn trägt
alles! Ein leichter Sinn? Das macht mich zu lachen,
wie das Wort in meine Feder kommt. O ein
bißchen leichteres Blut würde mich zum
Glücklichsten unter der Sonne machen. Was! Da,
wo andere mit ihrem bißchen Kraft und Talent
vor mir in behaglicher Selbstgefälligkeit
herumschwadronieren, verzweifle ich an meiner
Kraft, an meinen Gaben? Guter Gott, der du mir das
alles schenktest, warum hieltest du nicht die
Hälfte zurück und gabst mir
Selbstvertrauen und Genügsamkeit?
Geduld! Geduld! Es wird besser werden. Denn ich
sage dir, Lieber, du hast recht. Seit ich unter dem
Volke alle Tage herumgetrieben werde und sehe, was
sie tun und wie sie's treiben, stehe ich viel
besser mit mir selbst. Gewiß, weil wir doch
einmal so gemacht sind, daß wir alles mit uns
und uns mit allem vergleichen, so liegt Glück
oder Elend in den Gegenständen, womit wir uns
zusammenhalten, und da ist nichts gefährlicher
als die Einsamkeit. Unsere Einbildungskraft, durch
ihre Natur gedrungen sich zu erheben, durch die
phantastischen Bilder der Dichtkunst genährt,
bildet sich eine Reihe Wesen hinauf, wo wir das
unterste sind und alles außer uns herrlicher
erscheint, jeder andere vollkommner ist. Und das
geht ganz natürlich zu. Wir fühlen so
oft, daß uns manches mangelt, und eben was
uns fehlt, scheint uns oft ein anderer zu besitzen,
dem wir denn auch alles dazu geben, was wir haben,
und noch eine gewisse idealische Behaglichkeit
dazu. Und so ist der Glückliche vollkommen
fertig, das Geschöpf unserer selbst.
Dagegen, wenn wir mit all unserer Schwachheit
und Mühseligkeit nur gerade fortarbeiten, so
finden wir gar oft, daß wir mit unserem
Schlendern und Lavieren es weiter bringen als
andere mit ihrem Segeln und Rudern - und - das ist
doch ein wahres Gefühl seiner selbst, wenn man
andern gleich oder gar vorläuft.
Am
26. November 1771
Seitenanfang
Ich fange an, mich insofern ganz leidlich hier
zu befinden. Das beste ist, daß es zu tun
genug gibt; und dann die vielerlei Menschen, die
allerlei neuen Gestalten machen mir ein buntes
Schauspiel vor meiner Seele. Ich habe den Grafen
C... kennen lernen, einen Mann, den ich jeden Tag
mehr verehren muß, einen weiten, großen
Kopf, und der deswegen nicht kalt ist, weil er viel
übersieht; aus dessen Umgange so viel
Empfindung für Freundschaft und Liebe
hervorleuchtet. Er nahm teil an mir, als ich einen
Geschäftsauftrag an ihn ausrichtete und er bei
den ersten Worten merkte, daß wir uns
verstanden, daß er mit mir reden konnte wie
nicht mit jedem. Auch kann ich sein offnes Betragen
gegen mich nicht genug rühmen. So eine wahre,
warme Freude ist nicht in der Welt, als eine
große Seele zu sehen, die sich gegen einen
öffnet.
Am
24. Dezember 1771
Seitenanfang
Der Gesandte macht mir viel Verdruß, ich
habe es vorausgesehn. Er ist der pünktlichste
Narr, den es nur geben kann; Schritt vor Schritt
und umständlich wie eine Base; ein Mensch, der
nie mit sich selbst zufrieden ist, und dem es daher
niemand zu Danke machen kann. Ich arbeite gern
leicht weg, und wie es steht, so steht es; da ist
er imstande, mir einen Aufsatz zurückzugeben
und zu sagen:"er ist gut, aber sehen Sie ihn durch,
man findet immer ein besseres Wort, eine reinere
Partikel". - Da möchte ich des Teufels werden.
Kein Und, kein Bindewörtchen darf
außenbleiben, und von allen Inversionen, die
mir manchmal entfahren, ist er ein Todfeind; wenn
man seinen Period nicht nach der hergebrachten
Melodie heraborgelt, so versteht er gar nichts
drin. Das ist ein Leiden, mit so einem Menschen zu
tun zu haben.
Das Vertrauen des Grafen von C... ist noch das
einzige, was mich schadlos hält. Er sagte mir
letzthin ganz aufrichtig, wie unzufrieden er mit
der Langsamkeit und Bedenklichkeit meines Gesandten
sei". Die Leute erschweren es sich und andern.
Doch", sagte er,"man muß sich darein
resignieren wie ein Reisender, der über einen
Berg muß; freilich, wäre der Berg nicht
da, so wär der Weg viel bequemer und
kürzer; er ist nun aber da, und man soll
hinüber!"
Mein Alter spürt auch wohl den Vorzug, den
mit der Graf vor ihm gibt, und das ärgert ihn,
und er ergreift jede Gelegenheit, Übels gegen
mich vom Grafen zu reden, ich halte, wie
natürlich, Widerpart, und dadurch wird die
Sache nur schlimmer. Gestern gar brachte er mich
auf, denn ich war mit gemeint: zu so
Weltgeschäften sei der Graf ganz gut, er habe
viele Leichtigkeit zu arbeiten und führe eine
gute Feder, doch an gründlicher Gelehrsamkeit
mangle es ihm wie allen Belletristen. Dazu machte
er eine Miene, als ob er sagen wollte:"fühlst
du den Stich?"aber es tat bei mir nicht die
Wirkung; ich verachtete den Menschen, der so denken
und sich so betragen konnte. Ich hielt ihm stand
und focht mit ziemlicher Heftigkeit. Ich sagte, der
Graf sei ein Mann, vor dem man Achtung haben
müsse, wegen seines Charakters sowohl als
wegen seiner Kenntnisse". Ich habe", sagt'
ich,"niemand gekannt, dem es so geglückt
wäre, seinen Geist zu erweitern, ihn über
unzählige Gegenstände zu verbreiten und
doch diese Tätigkeit fürs gemeine Leben
zu behalten". - das waren dem Gehirne spanische
Dörfer, und ich empfahl mich, um nicht
über ein weiteres Deraisonnement noch mehr
Galle zu schlucken.
Und daran seid ihr alle schuld, die ihr mich in
das Joch geschwatzt und mir so viel von
Aktivität vorgesungen habt. Aktivität!
Wenn nicht der mehr tut, der Kartoffeln legt und in
die Stadt reitet, sein Korn zu verkaufen, als ich,
so will ich zehn Jahre noch mich auf der Galeere
abarbeiten, auf der ich nun angeschmiedet bin.
Und das glänzende Elend, die Langeweile
unter dem garstigen Volke, das sich hier neben
einander sieht! Die Rangsucht unter ihnen, wie sie
nur wachen und aufpassen, einander ein Schrittchen
abzugewinnen; die elendesten, erbärmlichsten
Leidenschaften, ganz ohne Röckchen. Da ist ein
Weib, zum Exempel, die jedermann von ihrem Adel und
ihrem Lande unterhält, so daß jeder
Fremde denken muß: das ist eine Närrin,
die sich auf das bißchen Adel und auf den Ruf
ihres Landes Wunderstreiche einbildet. - Aber es
ist noch viel ärger: eben das Weib ist hier
aus der Nachbarschaft eine Amtschreiberstochter. -
Sieh, ich kann das Menschengeschlecht nicht
begreifen, das so wenig Sinn hat, um sich so platt
zu prostituieren.
Zwar ich merke täglich mehr, mein Lieber,
wie töricht man ist, andere nach sich zu
berechnen. Und weil ich so viel mit mir selbst zu
tun habe und dieses Herz so stürmisch ist -
ach ich lasse gern die andern ihres Pfades gehen,
wenn sie mich auch nur könnten gehen
lassen.
Was mich am meisten neckt, sind die fatalen
bürgerlichen Verhältnisse. Zwar
weiß ich so gut als einer, wie nötig der
Unterschied der Stände ist, wie viel Vorteile
er mir selbst verschafft: nur soll er mir nicht
eben gerade im Wege stehen, wo ich noch ein wenig
Freude, einen Schimmer von Glück auf dieser
Erde genießen könnte. Ich lernte neulich
auf dem Spaziergange ein Fräulein von B.
kennen, ein liebenswürdiges Geschöpf, das
sehr viele Natur mitten in dem steifen Leben
erhalten hat. Wir gefielen uns in unserem
Gespräche, und da wir schieden, bat ich sie um
Erlaubnis, sie bei sich sehen zu dürfen. Sie
gestattete mir das mit so vieler
Freimütigkeit, daß ich den schicklichen
Augenblick kaum erwarten konnte, zu ihr zu gehen.
Sie ist nicht von hier und wohnt bei einer Tante im
Hause. Die Physiognomie der Alten gefiel mir nicht.
Ich bezeigte ihr viel Aufmerksamkeit, mein
Gespräch war meist an sie gewandt, und in
minder als einer halben Stunde hatte ich so
ziemlich weg, was mir das Fräulein nachher
selbst gestand: daß die liebe Tante in ihrem
Alter Mangel von allem, kein anständiges
Vermögen, keinen Geist und keine Stütze
hat als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm
als den Stand, in den sie sich verpalisadiert, und
kein Ergetzen, als von ihrem Stockwerk herab
über die bürgerlichen Häupter
wegzusehen. In ihrer Jugend soll sie schön
gewesen sein und ihr Leben weggegaukelt, erst mit
ihrem Eigensinne manchen armen Jungen gequält,
und in den reifern Jahren sich unter den Gehorsam
eines alten Offiziers geduckt haben, der gegen
diesen Preis und einen leidlichen Unterhalt das
eherne Jahrhundert mit ihr zubrachte und starb. Nun
sieht sie im eisernen sich allein und würde
nicht angesehn, wär' ihre Nichte nicht so
liebenswürdig.
Am
8. Januar 1772
Seitenanfang
Was das für Menschen sind, deren ganze
Seele auf dem Zeremoniell ruht, deren Dichten und
Trachten jahrelang dahin geht, wie sie um einen
Stuhl weiter hinauf bei Tische Angelegenheit
hätten: nein, vielmehr häufen sich die
Arbeiten, eben weil man über den kleinen
Verdrießlichkeiten von Beförderung der
wichtigen Sachen abgehalten wird. Vorige Woche gab
es bei der Schlittenfahrt Händel, und der
ganze Spaß wurde verdorben.
Die Toren, die nicht sehen, daß es
eigentlich auf den Platz gar nicht ankommt, und
daß der, der den ersten hat, so selten die
erste Rolle spielt! Wie mancher König wird
durch seinen Minister, wie mancher Minister durch
seinen Sekretär regiert! Und wer ist dann der
Erste? Der, dünkt mich, der die andern
übersieht und so viel Gewalt oder List hat,
ihre Kräfte und Leidenschaften zu
Ausführung seiner Plane anzuspannen.
weiter
zum 20. Januar 1772
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