Johann
Wolfgang von
Goethe
Werthers
Leiden, 1. Buch
erstellt: Juli 2000 von Martin
Schlu
|
->
Querformat bitte
nutzen
|
Übersicht
der Kapitel
-
zurück
zum
22. Mai
1771
-
- Am
26. Mai -
Am
27. Mai 1771
- Am
30. Mai 1771
- Am
16. Junius 1771
- Am
19. Junius 1771
- Am
21. Junius 1771
-
-
- - weiter
zum 29. Junius 1771
-
-
-
Am
26. Mai 1771 -
Seitenanfang
- Du kennst von
alters her meine Art, mich anzubauen, mir irgend
an einem vertraulichen Orte ein Hüttchen
aufzuschlagen und da mit aller
Einschränkung zu herbergen. Auch hier habe
ich wieder ein Plätzchen angetroffen, das
mich angezogen hat.
-
- Ungefähr
eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den sie
Wahlheim nennen. Die Lage an einem Hügel
ist sehr interessant, und wenn man oben auf dem
Fußpfade zum Dorf herausgeht,
übersieht man auf einmal das ganze Tal.
Eine gute Wirtin, die gefällig und munter
in ihrem Alter ist, schenkt Wein, Bier, Kaffee;
und was über alles geht, sind zwei Linden,
die mit ihren ausgebreiteten Ästen den
kleinen Platz vor der Kirche bedecken, der
ringsum mit Bauerhäusern, Scheunen und
Höfen eingeschlossen ist. So vertraulich,
so heimlich hab' ich nicht leicht ein
Plätzchen gefunden, und dahin lass' ich
mein Tischchen aus dem Wirtshause bringen und
meinen Stuhl, trinke meinen Kaffee da und lese
meinen Homer.
-
- Goethes
"Wahlheim", der Pfarrershof in Sessenheim bei
Frankfurt
-
- Das erstenmal,
als ich durch einen Zufall an einem schönen
Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das
Plätzchen so einsam. Es war alles im Felde;
nur ein Knabe von ungefähr vier Jahren
saß an der Erde und hielt ein anderes,
etwa halbjähriges, vor ihm zwischen seinen
Füßen sitzendes Kind mit beiden Armen
wider seine Brust, so daß er ihm zu einer
Art von Sessel diente und ungeachtet der
Munterkeit, womit er aus seinen schwarzen Augen
herumschaute, ganz ruhig saß. Mich
vergnügte der Anblick: ich setzte mich auf
einen Pflug, der gegenüber stand, und
zeichnete die brüderliche Stellung mit
vielem Ergetzen. Ich fügte den
nächsten Zaun, ein Scheunentor und einige
gebrochene Wagenräder bei, alles, wie es
hinter einander stand, und fand nach Verlauf
einer Stunde, daß ich eine wohlgeordnete,
sehr interessante Zeichnung verfertiget hatte,
ohne das mindeste von dem Meinen hinzuzutun. Das
bestärkte mich in meinem Vorsatze, mich
künftig allein an die Natur zu halten. Sie
allein ist unendlich reich, und sie allein
bildet den großen Künstler. Man kann
zum Vorteile der Regeln viel sagen,
ungefähr was man zum Lobe der
bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein
Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie
etwas Abgeschmacktes und Schlechtes
hervorbringen, wie einer, der sich durch Gesetze
und Wohlstand modeln läßt, nie ein
unerträglicher Nachbar, nie ein
merkwürdiger Bösewicht werden kann;
dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was
man wolle, das wahre Gefühl von Natur und
den wahren Ausdruck derselben zerstören!
Sag' du: 'das ist zu hart! Sie schränkt nur
ein, beschneidet die geilen Reben' etc. - guter
Freund, soll ich dir ein Gleichnis geben? Es ist
damit wie mit der Liebe. Ein junges Herz
hängt ganz an einem Mädchen, bringt
alle Stunden seines Tages bei ihr zu,
verschwendet alle seine Kräfte, all sein
Vermögen, um ihr jeden Augenblick
auszudrücken, daß er sich ganz ihr
hingibt. Und da käme ein Philister, ein
Mann, der in einem öffentlichen Amte steht,
und sagte zu ihm: 'feiner junger Herr! Lieben
ist menschlich, nur müßt Ihr
menschlich lieben! Teilet Eure Stunden ein, die
einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden
widmet Eurem Mädchen. Berechnet Euer
Vermögen, und was Euch von Eurer Notdurft
übrig bleibt, davon verwehr' ich Euch
nicht, ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu
machen, etwa zu ihrem Geburts- und Namenstage '
etc. - folgt der Mensch, so gibt's einen
brauchbaren jungen Menschen, und ich will selbst
jedem Fürsten raten, ihn in ein Kollegium
zu setzen; nur mit seiner Liebe ist's am Ende
und, wenn er ein Künstler ist, mit seiner
Kunst. O meine Freunde! Warum der Strom des
Genies so selten ausbricht, so selten in hohen
Fluten hereinbraust und eure staunende Seele
erschüttert? - liebe Freunde, da wohnen die
gelassenen Herren auf beiden Seiten des Ufers,
denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete und
Krautfelder zugrunde gehen würden, die
daher in Zeiten mit Dämmen und Ableiten der
künftig drohenden Gefahr abzuwehren
wissen.
-
- Am
27. Mai 1771 -
Seitenanfang
- Ich bin, wie
ich sehe, in Verzückung, Gleichnisse und
Deklamation verfallen und habe darüber
vergessen, dir auszuerzählen, was mit den
Kindern weiter geworden ist. Ich saß, ganz
in malerische Empfindung vertieft, die dir mein
gestriges Blatt sehr zerstückt darlegt, auf
meinem Pfluge wohl zwei Stunden. Da kommt gegen
Abend eine junge Frau auf die Kinder los, die
sich indes nicht gerührt hatten, mit einem
Körbchen am Arm und ruft von weitem:
"Philipps, du bist recht brav". - Sie
grüßte mich, ich dankte ihr, stand
auf, trat näher hin und fragte sie, ob sie
Mutter von den Kindern wäre? Sie bejahte
es, und indem sie dem ältesten einen halben
Weck gab, nahm sie das kleine auf und
küßte es mit aller mütterlichen
Liebe. -"ich habe", sagte sie, "meinem Philipps
das Kleine zu halten gegeben und bin mit meinem
Ältesten in die Stadt gegangen, um
weiß Brot zu holen und Zucker und ein
irden Breipfännchen". - Ich sah das alles
in dem Korbe, dessen Deckel abgefallen war.
-"Ich will meinem Hans (das war der Name des
Jüngsten) ein Süppchen kochen zum
Abende; der lose Vogel, der Große, hat mir
gestern das Pfännchen zerbrochen, als er
sich mit Philippsen um die Scharre des Breis
zankte". - ich fragte nach dem Ältesten,
und sie hatte mir kaum gesagt, daß er sich
auf der Wiese mit ein paar Gänsen
herumjage, als er gesprungen kam und dem Zweiten
eine Haselgerte mitbrachte. Ich unterhielt mich
weiter mit dem Weibe und erfuhr, daß sie
des Schulmeisters Tochter sei, und daß ihr
Mann eine Reise in die Schweiz gemacht habe, um
die Erbschaft eines Vetters zu holen. -"Sie
haben ihn drum betriegen <betrügen>
wollen", sagte sie,"und ihm auf seine Briefe
nicht geantwortet; da ist er selbst
hineingegangen. Wenn ihm nur kein Unglück
widerfahren ist, ich höre nichts von ihm".
- Es ward mir schwer, mich von dem Weibe los zu
machen, gab jedem der Kinder einen Kreuzer, und
auch fürs jüngste gab ich ihr einen,
ihm einen Weck zur Suppe mitzubringen, wenn sie
in die Stadt ginge, und so schieden wir von
einander.
-
- Ich sage dir,
mein Schatz, wenn meine Sinne gar nicht mehr
halten wollen, so lindert all den Tumult der
Anblick eines solchen Geschöpfs, das in
glücklicher Gelassenheit den engen Kreis
seines Daseins hingeht, von einem Tage zum
andern sich durchhilft, die Blätter
abfallen sieht und nichts dabei denkt, als
daß der Winter kommt.
-
- Seit der Zeit
bin ich oft draußen. Die Kinder sind ganz
an mich gewöhnt, sie kriegen Zucker, wenn
ich Kaffee trinke, und teilen das Butterbrot und
die saure Milch mit mir des Abends. Sonntags
fehlt ihnen der Kreuzer nie, und wenn ich nicht
nach der Betstunde da bin, so hat die Wirtin
Ordre, ihn auszuzahlen.
- Sie sind
vertraut, erzählen mir allerhand, und
besonders ergetze ich mich an ihren
Leidenschaften und simpeln Ausbrüchen des
Begehrens, wenn mehr Kinder aus dem Dorfe sich
versammeln.
- Viele Mühe
hat mich's gekostet, der Mutter ihre Besorgnis
zu nehmen, sie möchten den Herrn
inkommodieren.
-
- Am
30. Mai 1771 -
Seitenanfang
- Was ich dir
neulich von der Malerei sagte, gilt gewiß
auch von der Dichtkunst; es ist nur, daß
man das Vortreffliche erkenne und es
auszusprechen wage, und das ist freilich mit
wenigem viel gesagt. Ich habe heute eine Szene
gehabt, die, rein abgeschrieben, die
schönste Idylle von der Welt gäbe;
doch was soll Dichtung, Szene und Idylle?
Muß es denn immer gebosselt sein, wenn wir
teil an einer Naturerscheinung nehmen
sollen?
-
- Wenn du auf
diesen Eingang viel Hohes und Vornehmes
erwartest, so bist du wieder übel betrogen;
es ist nichts als ein Bauerbursch, der mich zu
dieser lebhaften Teilnehmung hingerissen hat.
Ich werde, wie gewöhnlich, schlecht
erzählen, und du wirst mich, wie
gewöhnlich, denk' ich, übertrieben
finden; es ist wieder Wahlheim, und immer
Wahlheim, das diese Seltenheiten
hervorbringt.
- Es war eine
Gesellschaft draußen unter den Linden,
Kaffee zu trinken. Weil sie mir nicht ganz
anstand, so blieb ich unter einem Vorwande
zurück.
-
- Ein Bauerbursch
kam aus einem benachbarten Hause und
beschäftigte sich, an dem Pfluge, den ich
neulich gezeichnet hatte, etwas zurecht zu
machen. Da mir sein Wesen gefiel, redete ich ihn
an, fragte nach seinen Umständen, wir waren
bald bekannt und, wie mir's gewöhnlich mit
dieser Art Leuten geht, bald vertraut. Er
erzählte mir, daß er bei einer Witwe
in Diensten sei und von ihr gar wohl gehalten
werde. Er sprach so vieles von ihr und lobte sie
dergestalt, daß ich bald merken konnte, er
sei ihr mit Leib und Seele zugetan. Sie sei
nicht mehr jung, sagte er, sie sei von ihrem
ersten Mann übel gehalten worden, wolle
nicht mehr heiraten, und aus seiner
Erzählung leuchtete so merklich hervor, wie
schön, wie reizend sie für ihn sei,
wie sehr er wünschte, daß sie ihn
wählen möchte, um das Andenken der
Fehler ihres ersten Mannes auszulöschen,
daß ich Wort für Wort wiederholen
müßte, um dir die reine Neigung, die
Liebe und Treue dieses Menschen anschaulich zu
machen. Ja, ich müßte die Gabe des
größten Dichters besitzen, um dir
zugleich den Ausdruck seiner Gebärden, die
Harmonie seiner Stimme, das heimliche Feuer
seiner Blicke lebendig darstellen zu
können. Nein, es sprechen keine Worte die
Zartheit aus, die in seinem ganzen Wesen und
Ausdruck war; es ist alles nur plump, was ich
wieder vorbringen könnte. Besonders
rührte mich, wie er fürchtete, ich
möchte über sein Verhältnis zu
ihr ungleich denken und an ihrer guten
Aufführung zweifeln. Wie reizend es war,
wenn er von ihrer Gestalt, von ihrem Körper
sprach, der ihn ohne jugendliche Reize gewaltsam
an sich zog und fesselte, kann ich mir nur in
meiner innersten Seele wiederholen. Ich hab' in
meinem Leben die dringende Begierde und das
heiße, sehnliche Verlangen nicht in dieser
Reinheit gesehen, ja wohl kann ich sagen, in
dieser Reinheit nicht gedacht und geträumt.
Schelte mich nicht, wenn ich dir sage, daß
bei der Erinnerung dieser Unschuld und Wahrheit
mir die innerste Seele glüht, und daß
mich das Bild dieser Treue und Zärtlichkeit
überall verfolgt, und daß ich, wie
selbst davon entzündet, lechze und
schmachte.
-
- Ich will nun
suchen, auch sie ehstens zu sehn, oder vielmehr,
wenn ich's recht bedenke, ich will's vermeiden.
Es ist besser, ich sehe sie durch die Augen
ihres Liebhabers; vielleicht erscheint sie mir
vor meinen eigenen Augen nicht so, wie sie jetzt
vor mir steht, und warum soll ich mir das
schöne Bild verderben?
-
- Am
16. Junius 1771 -
Seitenanfang
- Warum ich dir
nicht schreibe? - Fragst du das und bist doch
auch der Gelehrten einer. Du solltest raten,
daß ich mich wohl befinde, und zwar - kurz
und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht,
die mein Herz näher angeht. Ich habe - ich
weiß nicht.
-
- Dir in der
Ordnung zu erzählen, wie's zugegangen ist,
daß ich eins der liebenswürdigsten
Geschöpfe habe kennen lernen, wird schwer
halten. Ich bin vergnügt und
glücklich, und also kein guter
Historienschreiber.
- Einen Engel! -
pfui! Das sagt jeder von der Seinigen, nicht
wahr? Und doch bin ich nicht imstande, dir zu
sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie
vollkommen ist; genug, sie hat allen meinen Sinn
gefangengenommen.
-
- So viel Einfalt
bei so viel Verstand, so viel Güte bei so
viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem
wahren Leben und der Tätigkeit.
-
- - Das ist alles
garstiges Gewäsch, was ich da von ihr sage,
leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug ihres
Selbst ausdrücken. Ein andermal - nein,
nicht ein andermal, jetzt gleich will ich dir's
erzählen. Tu' ich 's jetzt nicht, so
geschäh' es niemals. Denn, unter uns, seit
ich angefangen habe zu schreiben, war ich schon
dreimal im Begriffe, die Feder niederzulegen,
mein Pferd satteln zu lassen und hinauszureiten.
Und doch schwur ich mir heute früh, nicht
hinauszureiten, und gehe doch alle Augenblick'
ans Fenster, zu sehen, wie hoch die Sonne noch
steht.
-
- - Ich hab's
nicht überwinden können, ich
mußte zu ihr hinaus. Da bin ich wieder,
Wilhelm, will mein Butterbrot zu Nacht essen und
dir schreiben. Welch eine Wonne das für
meine Seele ist, sie in dem Kreise der lieben,
muntern Kinder, ihrer acht Geschwister, zu
sehen!
- - Wenn ich so
fortfahre, wirst du am Ende so klug sein wie am
Anfange. Höre denn, ich will mich zwingen,
ins Detail zu gehen.
-
- Ich schrieb dir
neulich, wie ich den Amtmann S. habe kennen
lernen, und wie er mich gebeten habe, ihn bald
in seiner Einsiedelei oder vielmehr seinem
kleinen Königreiche zu besuchen. Ich
vernachlässigte das, und wäre
vielleicht nie hingekommen, hätte mir der
Zufall nicht den Schatz entdeckt, der in der
stillen Gegend verborgen liegt.
-
- Unsere jungen
Leute hatten einen Ball auf dem Lande
angestellt, zu dem ich mich denn auch willig
finden ließ. Ich bot einem hiesigen guten,
schönen, übrigens unbedeutenden
Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht,
daß ich eine Kutsche nehmen, mit meiner
Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte der
Lustbarkeit hinausfahren und auf dem Wege
Charlotten S. mitnehmen sollte. -"Sie werden ein
schönes Frauenzimmer kennenlernen", sagte
meine Gesellschafterin, da wir durch den weiten,
ausgehauenen Wald nach dem Jagdhause fuhren.
-"Nehmen Sie sich in acht", versetzte die Base,
"daß Sie sich nicht
verlieben!"
- - "Wieso?"
sagte ich. -"Sie ist schon vergeben,"antwortete
jene,"an einen sehr braven Mann, der weggereist
ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil
sein Vater gestorben ist, und sich um eine
ansehnliche Versorgung zu bewerben". - Die
Nachricht war mir ziemlich
gleichgültig.
-
- Die Sonne war
noch eine Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor
dem Hoftore anfuhren. Es war sehr schwül,
und die Frauenzimmer äußerten ihre
Besorgnis wegen eines Gewitters, das sich in
weißgrauen, dumpfichten Wölkchen
rings am Horizonte zusammenzuziehen schien. Ich
täuschte ihre Furcht mit anmaßlicher
Wetterkunde, ob mir gleich selbst zu ahnen
anfing, unsere Lustbarkeit werde einen
Stoß leiden.
- Ich war
ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam,
bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell
Lottchen würde gleich kommen. Ich ging
durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und
da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen
war und in die Tür trat, fiel mir das
reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je
gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs
Kinder von eilf <elf> zu zwei Jahren um
ein Mädchen von schöner Gestalt,
mittlerer Größe, die ein simples
weißes Kleid, mit blaßroten
Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt
ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen
rings herum jedem sein Stück nach
Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab's
jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief
so ungekünstelt sein "danke!", indem es mit
den kleinen Händchen lange in die Höhe
gereicht hatte, ehe es noch abgeschnitten war,
und nun mit seinem Abendbrote vergnügt
entweder wegsprang, oder nach seinem stillern
Charakter gelassen davonging nach dem Hoftore
zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen,
darin ihre Lotte wegfahren sollte. -
-
- "Ich bitte um
Vergebung", sagte sie, "daß ich Sie
hereinbemühe und die Frauenzimmer warten
lasse. Über dem Anziehen und allerlei
Bestellungen fürs Haus in meiner
Abwesenheit habe ich vergessen, meinen Kindern
ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von
niemanden Brot geschnitten haben als von
mir".
- Ich machte ihr
ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele
ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen,
und ich hatte eben Zeit, mich von der
Überraschung zu erholen, als sie in die
Stube lief, ihre Handschuhe und den Fächer
zu holen. Die Kleinen sahen mich in einiger
Entfernung so von der Seite an, und ich ging auf
das jüngste los, das ein Kind von der
glücklichsten Gesichtsbildung war. Es zog
sich zurück, als eben Lotte zur Türe
herauskam und sagte:"Louis, gib dem Herrn Vetter
eine Hand". - das tat der Knabe sehr
freimütig, und ich konnte mich nicht
enthalten, ihn, ungeachtet seines kleinen
Rotznäschens, herzlich zu
küssen.
-
- "Vetter?"sagte
ich, indem ich ihr die Hand reichte," glauben
Sie, daß ich des Glücks wert sei, mit
Ihnen verwandt zu sein?" -"O", sagte sie mit
einem leichtfertigen Lächeln, "unsere
Vetterschaft ist sehr weitläufig, und es
wäre mir leid, wenn Sie der schlimmste
drunter sein sollten". - Im Gehen gab sie
Sophien, der ältesten Schwester nach ihr,
einem Mädchen von ungefähr eilf
Jahren, den Auftrag, wohl auf die Kinder acht zu
haben und den Papa zu grüßen, wenn er
vom Spazierritte nach Hause käme. Den
Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer Schwester
Sophie folgen, als wenn sie's selber wäre,
das denn auch einige ausdrücklich
versprachen. Eine kleine, naseweise Blondine
aber, von ungefähr sechs Jahren, sagte: "du
bist's doch nicht, Lottchen, wir haben dich doch
lieber". - Die zwei ältesten Knaben waren
hinten auf die Kutsche geklettert, und auf mein
Vorbitten erlaubte sie ihnen, bis vor den Wald
mitzufahren, wenn sie versprächen, sich
nicht zu necken und sich recht
festzuhalten.
-
- Wir hatten uns
kaum zurecht gesetzt, die Frauenzimmer sich
bewillkommt, wechselsweise über den Anzug,
vorzüglich über die Hüte ihre
Anmerkungen gemacht und die Gesellschaft, die
man erwartete, gehörig durchgezogen, als
Lotte den Kutscher halten und ihre Brüder
herabsteigen ließ, die noch einmal ihre
Hand zu küssen begehrten, das denn der
älteste mit aller Zärtlichkeit, die
dem Alter von fünfzehn Jahren eigen sein
kann, der andere mit viel Heftigkeit und
Leichtsinn tat. Sie ließ die Kleinen noch
einmal grüßen, und wir fuhren
weiter.
-
- Die Base
fragte, ob sie mit dem Buche fertig wäre,
das sie ihr neulich geschickt hätte.
-"nein", sagte Lotte,"es gefällt mir nicht,
Sie können's wiederhaben. Das vorige war
auch nicht besser". - Ich erstaunte, als ich
fragte, was es für Bücher wären,
und sie mir antwortete: - ich fand so viel
Charakter in allem, was sie sagte, ich sah mit
jedem Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes
aus ihren Gesichtszügen hervorbrechen, die
sich nach und nach vergnügt zu entfalten
schienen, weil sie an mir fühlte, daß
ich sie verstand.
-
- "Wie ich
jünger war", sagte sie, "liebte ich nichts
so sehr als Romane. Weiß Gott, wie wohl
mir's war, wenn ich mich Sonntags in so ein
Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an dem
Glück und Unstern einer Miß Jonny
teilnehmen konnte. Ich leugne auch nicht,
daß die Art noch einige Reize für
mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch
komme, so muß es auch recht nach meinem
Geschmack sein. Und der Autor ist mir der
liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei
dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte
mir doch so interessant und herzlich wird als
mein eigen häuslich Leben, das freilich
kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle
umsäglicher Glückseligkeit
ist".
-
- Ich
bemühte mich, meine Bewegungen über
diese Worte zu verbergen. Das ging freilich
nicht weit: denn da ich sie mit solcher Wahrheit
im Vorbeigehen vom Landpriester von Wakefield,
vom -- reden hörte, kam ich ganz
außer mich, sagte ihr alles, was ich
mußte, und bemerkte erst nach einiger
Zeit, da Lotte das Gespräch an die anderen
wendete, daß diese die Zeit über mit
offenen Augen, als säßen sie nicht
da, dagesessen hatten. Die Base sah mich mehr
als einmal mit einem spöttischen
Näschen an, daran mir aber nichts gelegen
war.
-
- Das
Gespräch fiel aufs Vergnügen am Tanze.
-"wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist,"sagte
Lotte, "so gestehe ich Ihnen gern, ich
weiß mir nichts übers Tanzen. Und
wenn ich was im Kopfe habe und mir auf meinem
verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommle,
so ist alles wieder gut".
-
- Wie ich mich
unter dem Gespäche in den schwarzen Augen
weidete - wie die lebendigen Lippen und die
frischen, muntern Wangen meine ganze Seele
anzogen - wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer
Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht
hörte, mit denen sie sich ausdrückte -
davon hast du eine Vorstellung, weil du mich
kennst. Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein
Träumender, als wir vor dem Lusthause
stille hielten, und war so in Träumen rings
in der dämmernden Welt verloren, daß
ich auf die Musik kaum achtete, die uns von dem
erleuchteten Saal herunter
entgegenschallte.
-
- Die zwei Herren
Audran und ein gewisser N. N. - wer behält
alle die Namen -, die der Base und Lottens
Tänzer waren, empfingen uns am Schlage,
bemächtigten sich ihrer Frauenzimmer, und
ich führte das meinige hinauf.
-
- Wir schlangen
uns in Menuetts um einander herum; ich forderte
ein Frauenzimmer nach dem andern auf, und just
die unleidlichsten konnten nicht dazu kommen,
einem die Hand zu reichen und ein Ende zu
machen. Lotte und ihr Tänzer fingen einen
Englischen an, und wie wohl mir's war, als sie
auch in der Reihe die Figur mit uns anfing,
magst du fühlen. Tanzen muß man sie
sehen! Siehst du, sie ist so mit ganzem Herzen
und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer
Körper eine Harmonie, so sorglos, so
unbefangen, als wenn das eigentlich alles
wäre, als wenn sie sonst nichts
dächte, nichts empfände; und in dem
Augenblicke gewiß schwindet alles andere
vor ihr.
-
- Ich bat sie um
den zweiten Contretanz; sie sagte mit den
dritten zu, und mit der liebenswürdigsten
Freimütigkeit von der Welt versicherte sie
mir, daß sie herzlich gern deutsch tanze.
-"Es ist hier so Mode,"fuhr sie fort,"daß
jedes Paar, das zusammen gehört, beim
Deutschen zusammenbleibt, und mein Chapeau walzt
schlecht und dankt mir's, wenn ich ihm die
Arbeit erlasse. Ihr Frauenzimmer kann's auch
nicht und mag nicht, und ich habe im Englischen
gesehen, daß Sie gut walzen; wenn Sie nun
mein sein wollen fürs Deutsche, so gehen
Sie und bitten sich's von meinem Herrn aus, und
ich will zu Ihrer Dame gehen". - ich gab ihr die
Hand darauf, und wir machten aus, daß ihr
Tänzer inzwischen meine Tänzerin
unterhalten sollte.
- Nun ging's an,
und wir ergetzten uns eine Weile an
manigfaltigen Schlingungen der Arme. Mit welchem
Reize, mit welcher Flüchtigkeit bewegte sie
sich! Und da wir nun gar ans Walzen kamen und
wie die Sphären um einander herumrollten,
ging's freilich anfangs, weil's die wenigsten
können, ein bißchen bunt
durcheinander. Wir waren klug und ließen
sie austoben, und als die Ungeschicktesten den
Plan geräumt hatten, fielen wir ein und
hielten mit noch einem Paare, mit Audran und
seiner Tänzerin, wacker aus. Nie ist mir's
so leicht vom Flecke gegangen. Ich war kein
Mensch mehr. Das liebenswürdigste
Geschöpf in den Armen zu haben und mit ihr
herumzufliegen wie Wetter, daß alles rings
umher verging, und - Wilhelm, um ehrlich zu
sein, tat ich aber doch den Schwur, daß
ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich
Ansprüche hätte, mir nie mit einem
andern walzen sollte als mit mir, und wenn ich
drüber zugrunde gehen müßte. Du
verstehst mich!
-
- Wir machten
einige Touren gehend im Saale, um zu
verschnaufen. Dann setzte sie sich, und die
Orangen, die ich beiseite gebracht hatte, die
nun die einzigen noch übrigen waren, taten
vortreffliche Wirkung, nur daß mir mit
jedem Schnittchen, das sie einer unbescheidenen
Nachbarin ehrenhalben zuteilte, ein Stich durchs
Herz ging.
-
- Beim dritten
englischen Tanz waren wir das zweite Paar. Wie
wir die Reihe durchtanzten und ich, weiß
Gott mit wieviel Wonne, an ihrem Arm und Auge
hing, das voll vom wahrsten Ausdruck des
offensten, reinsten Vergnügens war, kommen
wir an eine Frau, die mit wegen ihrer
liebenswürdigen Miene auf einem nicht mehr
ganz jungen Gesichte merkwürdig gewesen
war. Sie sieht Lotten lächelnd an, hebt
einen drohenden Finger auf und nennt den Namen
Albert zweimal im Vorbeifliegen mit viel
Bedeutung.
-
- "Wer ist
Albert?" sagte ich zu Lotten, "wenn's nicht
Vermessenheit ist zu fragen". - Sie war im
Begriff zu antworten, als wir uns scheiden
mußten, um die große Achte zu
machen, und mich dünkte einiges Nachdenken
auf ihrer Stirn zu sehen, als wir so vor
einander vorbeikreuzten. -"Was soll ich's Ihnen
leugnen," sagte sie, indem sie mir die Hand zur
Promenade bot. "Albert ist ein braver Mensch,
dem ich so gut als verlobt bin". - nun war mir
das nichts Neues (denn die Mädchen hatten
mir's auf dem Wege gesagt) und war mir doch so
ganz neu, weil ich es noch nicht im
Verhältnis auf sie, die mir in so wenig
Augenblicken so wert geworden war, gedacht
hatte. Genug, ich verwirrte mich, vergaß
mich und kam zwischen das unrechte Paar hinein,
daß alles drunter und drüber ging und
Lottens ganze Gegenwart und Zerren und Ziehen
nötig war, um es schnell wieder in Ordnung
zu bringen.
-
- Der Tanz war
noch nicht zu Ende, als die Blitze, die wir
schon lange am Horizonte leuchten gesehn und die
ich immer für Wetterkühlen ausgegeben
hatte, viel stärker zu werden anfingen und
der Donner die Musik überstimmte. Drei
Frauenzimmer liefen aus der Reihe, denen ihre
Herren folgten; die Unordnung wurde allgemein,
und die Musik hörte auf. Es ist
natürlich, wenn uns ein Unglück oder
etwas Schreckliches im Vergnügen
überrascht, daß es stärkere
Eindrücke auf uns macht als sonst, teils
wegen des Gegensatzes, der sich so lebhaft
empfinden läßt, teils und noch mehr,
weil unsere Sinne einmal der Fühlbarkeit
geöffnet sind und also desto schneller
einen Eindruck annehmen. Diesen Ursachen
muß ich die wunderbaren Grimassen
zuschreiben, in die ich mehrere Frauenzimmer
ausbrechen sah. Die klügste setzte sich in
eine Ecke, mit dem Rücken gegen das Fenster
und hielt die Ohren zu. Eine andere kniete vor
ihr nieder und verbarg den Kopf in der ersten
Schoß. Eine dritte schob sich zwischen
beide hinein und umfaßte ihre
Schwesterchen mit tausend Tränen. Einige
wollten nach Hause; andere, die noch weniger
wußten, was sie taten, hatten nicht so
viel Besinnungskraft, den Keckheiten unserer
jungen Schlucker zu steuern, die sehr
beschäftigt zu sein schienen, alle die
ängstlichen Gebete, die dem Himmel bestimmt
waren, von den Lippen der schönen
Bedrängten wegzufangen. Einige unserer
Herren hatten sich hinabbegeben, um ein
Pfeifchen in Ruhe zu rauchen; und die
übrige Gesellschaft schlug es nicht aus,
als die Wirtin auf den klugen Einfall kam, uns
ein Zimmer anzuweisen, das Läden und
Vorhänge hätte. Kaum waren wir da
angelangt, als Lotte beschäftigt war, einen
Kreis von Stühlen zu stellen und, als sich
die Gesellschaft auf ihre Bitte gesetzt hatte,
den Vortrag zu einem Spiele zu tun.
-
- Ich sah
manchen, der in Hoffnung auf ein saftiges Pfand
sein Mäulchen spitzte und seine Glieder
reckte. -"Wir spielen Zählens!" sagte sie".
Nun gebt acht! Ich geh' im Kreise herum von der
Rechten zur Linken, und so zählt ihr auch
rings herum, jeder die Zahl, die an ihn kommt,
und das muß gehen wie ein Lauffeuer, und
wer stockt oder sich irrt, kriegt eine Ohrfeige,
und so bis tausend". - nun war das lustig
anzusehen: sie ging mit ausgestrecktem Arm im
Kreise herum. "Eins", fing der erste an, der
Nachbar "zwei", "drei" der folgende, und so
fort. Dann fing sie an, geschwinder zu gehen,
immer geschwinder; da versah's einer: Patsch!
Eine Ohrfeige, und über das Gelächter
der folgende auch: Patsch! Und immer
geschwinder. Ich selbst kriegte zwei
Maulschellen und glaubte mit innigem
Vergnügen zu bemerken, daß sie
stärker seien, als sie den übrigen
zuzumessen pflegte. Ein allgemeines
Gelächter und Geschwärm endigte das
Spiel, ehe noch das Tausend ausgezählt war.
Die Vertrautesten zogen einander beiseite, das
Gewitter war vorüber, und ich folgte Lotten
in den Saal. Unterwegs sagte sie: "über die
Ohrfeigen haben sie Wetter und alles vergessen!"
- ich konnte ihr nichts antworten. - "ich war",
fuhr sie fort, "eine der Furchtsamsten, und
indem ich mich herzhaft stellte, um den andern
Mut zu geben, bin ich mutig geworden". - Wir
traten ans Fenster. Es donnerte
abseitwärts, und der herrliche Regen
säuselte auf das Land, und der
erquickendste Wohlgeruch stieg in aller
Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie
stand auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr
Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel
und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll,
sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte:
"Klopstock!" < bekannter Dichter, der ein
Liebesgedicht schrieb, das beide kennen> -
Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode,
die ihr in Gedanken lag, und versank in dem
Strome von Empfindungen, den sie in dieser
Losung über mich ausgoß. Ich ertrug's
nicht, neigte mich auf ihre Hand und
küßte sie unter den wonnevollsten
Tränen. Und sah nach ihrem Auge wieder -
Edler! Hättest du deine Vergötterung
in diesem Blicke gesehen, und möcht' ich
nun deinen so oft entweihten Namen nie wieder
nennen hören!
-
- Am
19. Junius 1771 -
Seitenanfang
- Wo ich neulich
mit meiner Erzählung geblieben bin,
weiß ich nicht mehr; das weiß ich,
daß es zwei Uhr des Nachts war, als ich zu
Bette kam, und daß, wenn ich dir
hätte vorschwatzen können, statt zu
schreiben, ich dich vielleicht bis an den Morgen
aufgehalten hätte. Was auf unserer
Hereinfahrt vom Balle geschehen ist, habe ich
noch nicht erzählt, habe auch heute keinen
Tag dazu.
-
- Es war der
herrlichste Sonnenaufgang. Der tröpfelnde
Wald und das erfrischte Feld umher! Unsere
Gesellschafterinnen nickten ein. Sie fragte
mich, ob ich nicht auch von der Partie sein
wollte; ihretwegen sollt' ich unbekümmert
sein. -"So lange ich diese Augen offen sehe",
sagte ich und sah sie fest an,"so lange hat's
keine Gefahr". - Und wir haben beide ausgehalten
bis an ihr Tor, da ihr die Magd leise aufmachte
und auf ihr Fragen versicherte, daß Vater
und Kleine wohl seien und alle noch schliefen.
Da verließ ich sie mit der Bitte, sie
selbigen Tags noch sehen zu dürfen; sie
gestand mir's zu, und ich bin gekommen - und
seit der Zeit können Sonne, Mond und Sterne
geruhig ihre Wirtschaft treiben, ich weiß
weder daß Tag noch daß Nacht ist,
und die ganze Welt verliert sich um mich
her.
-
- Am
21. Junius 1771 -
Seitenanfang
- Ich lebe so
glückliche Tage, wie sie Gott seinen
Heiligen ausspart; und mit mir mag werden was
will, so darf ich nicht sagen, daß ich die
Freuden, die reinsten Freuden des Lebens nicht
genossen habe. - du kennst mein Wahlheim; dort
bin ich völlig etabliert, von da habe ich
nur eine halbe Stunde zu Lotten, dort fühl'
ich mich selbst und alles Glück, das dem
Menschen gegeben ist.
-
- Hätt' ich
gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke meiner
Spaziergänge wählte, daß es so
nahe am Himmel läge! Wie oft habe ich das
Jagdhaus, das nun alle meine Wünsche
einschließt, auf meinen weiten
Wanderungen, bald vom Berge, bald von der Ebne
über den Fluß gesehn!
- Lieber Wilhelm,
ich habe allerlei nachgedacht, über die
Begier im Menschen, sich auszubreiten, neue
Entdeckungen zu machen, herumzuschweifen; und
dann wieder über den inneren Trieb, sich
der Einschränkung willig zu ergeben, in dem
Gleise der Gewohnheit so hinzufahren und sich
weder um Rechts noch um Links zu
bekümmern.
-
- Es ist
wunderbar: wie ich hierher kam und vom
Hügel in das schöne Tal schaute, wie
es mich rings umher anzog. - dort das
Wäldchen! - ach könntest du dich in
seine Schatten mischen! - dort die Spitze des
Berges! - ach könntest du von da die weite
Gegend überschauen! - die in einander
geketteten Hügel und vertraulichen
Täler! - o könnte ich mich in ihnen
verlieren! - - ich eilte hin, und kehrte
zurück, und hatte nicht gefunden, was ich
hoffte. O es ist mit der Ferne wie mit der
Zukunft! Ein großes dämmerndes Ganzes
ruht vor unserer Seele, unsere Empfindung
verschwimmt darin wie unser Auge, und wir sehnen
uns, ach! Unser ganzes Wesen hinzugeben, uns mit
aller Wonne eines einzigen, großen,
herrlichen Gefühls ausfüllen zu
lassen. - und ach! Wenn wir hinzueilen, wenn das
Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und
wir stehen in unserer Armut, in unserer
Eingeschränktheit, und unsere Seele lechzt
nach entschlüpftem Labsale.
- So sehnt sich
der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach
seinem Vaterlande und findet in seiner
Hütte, an der Brust seiner Gattin, in dem
Kreise seiner Kinder, in den Geschäften zu
ihrer Erhaltung die Wonne, die er in der weiten
Welt vergebens suchte.
-
- Wenn ich des
Morgens mit Sonnenaufgange hinausgehe nach
meinem Wahlheim und dort im Wirtsgarten mir
meine Zuckererbsen selbst pflücke, mich
hinsetze, sie abfädne und dazwischen in
meinem Homer lese; wenn ich in der kleinen
Küche mir einen Topf wähle, mir Butter
aussteche, Schoten ans Feuer stelle, zudecke und
mich dazusetze, sie manchmal umzuschütteln:
da fühl' ich so lebhaft, wie die
übermütigen Freier der Penelope Ochsen
und Schweine schlachten, zerlegen und braten. Es
ist nichts, das mich so mit einer stillen,
wahren Empfindung ausfüllte als die
Züge patriarchalischen Lebens, die ich,
Gott sei Dank, ohne Affektation in meine
Lebensart verweben kann.
-
- Wie wohl ist
mir's, daß mein Herz die simple, harmlose
Wonne des Menschen fühlen kann, der ein
Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das er
selbst gezogen, und nun nicht den Kohl allein,
sondern all die guten Tage, den schönen
Morgen, da er ihn pflanzte, die lieblichen
Abende, da er ihn begoß, und da er an dem
fortschreitenden Wachstum seine Freude hatte,
alle in einem Augenblicke wieder
mitgenießt.
-
- - Seitenanfang
- - weiter
zum 29. Junius 1771
-
|