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Kulturgeschichte - Barock - J. S. Bach: Stimmung und Temperatur


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Johann Sebastian Bach 1685 - 1750
Exkurs - Das wohltemperierte Klavier
erstellt von © Martin Schlu - Stand: 13. Januar 2014
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Grundlagen der Physik - Bachs Intonationsproblem - Werckmeister-Stimmung - Druck und Erscheinen
vor Bach
Einführung
Um das Problem der Klavierstimmung überhaupt verstehen zu können, muß man wissen, daß die Genauigkeit der Tonbildung (Intonation) bis etwa 1600 durch eine Quintstimmung festgelegt wurde. Dabei orientierte man sich an den ganzzahligen Schwingungsverhältnissen der Physik, die seit Archimedes und Pythagoras bekannt waren. Eine schwingendes Länge (Saite oder Luftsäule z.B. einer Naturtrompete) mit der Länge 1 konnte um das Doppelte länger sein (2) und erzeugte dann einen doppelt so tiefen Ton. Halbierte man diese Länge nun (1/2), erklang der Ton doppelt so hoch. „Doppelt so hoch“ oder „doppelt so tief“ wurden schon in der Antike  mit dem Wort „Oktave“ bezeichnet und die Oktaven hatten logischerweise die Schwingungsverhältnisse (nach oben)
von 1 - 1/2 - 1/4 - 1/ 8 und so weiter. Diese Verhältnisse ließen sich auch  mit 1:2, 1:4 oder 1:8 kennzeichnen.

Teilte man die schwingende Länge in Drittel (1:3 oder 2:3) kam man auf die Quinte, teilte man sie in Viertel, war man wieder bei Ableitungen der Oktave. Eine Aufteilung in Fünftel (1:5, 4:5) ergab große Terzen, eine Aufteilung in Sechstel (1:6, 5:6) ergab kleine Terzen. Die Septimen (Siebtel, 1:7, 6:7) klingen für unsere Ohren zu tief, die Achtel sind wieder Ableitungen der Oktave und Neuntel und Zehntel sind Ganztöne. Blechbläser kennen das alles, denn auf diesen Instrumenten ergeben sich „Naturtonreihen“ in eben dieser Abfolge wie z. B. bei der Posaune:

1
2
3
4
5
6
7
9
10
Grundton
Oktave Quinte
Doppeloktave
gr. Terz
kl. Terz
Septime
gr. Ganzton
kl. Ganton
Kontra-B
gr. B
kl. f
kl. b
d'
f'
as'(zu tief)
b'
c''

Ab dem achten Oberton kann man eine Tonleiter spielen (wenn man gut genug ist), die leidlich stimmt und Naturtrompeter nehmen ein Trompetenmundstück und eine Instrument etwa in Posaunenlänge und können darauf bis zum 16. Oberton spielen, wobei sie wenige Grifflöcher benutzen um die Intonationsschwächen der Naturtonreihe auszugleichen. Weil zu Bachs Zeiten die Ventile noch nicht erfunden waren, war das auch die einzige Möglichkeit, Melodien zu spielen. Bachs Lieblingstrompeter Gottfried Reiche starb auch irgendwann an einem Lungenriß, weil man als Bläser oberhalb des zehnten Obertons in Luftdruckbereiche kommt, wo 1 bar überschritten wird (ich bin selber Bläser).
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Nach etlichen Seminaren bei Prof. Martin Vogel kann ich Bachs Grundproblem relativ einfach zusammenfassen:

Wenn man vom C ausgehend in Quinten aufwärts geht (immer in Naturquinten) und die Reihenfolge einhält:

C1  -  G1  -  D  -  A  -  e  -  h  -  fis'  -  cis''  -  gis''  -  dis'''  -  ais'''  -  ais'''  -  his'''

müßte der Ton his''' mit dem c'''' gleich sein. Das ist es aber nicht, denn zwölf Quinten sind höher als fünf Oktaven. Wenn man die Oktave in 1200 Abschnitte („cent“) teilt, liegt die Oktave bei 1200 Cent, die Naturquinte bei 702 cent, die Durterz bei 386 cent. Die Differenz zwischen der 12. Quinte und der 5. Oktave sind dann etwa 24 cent, ein Viertelton (gute Musiker hören etwa ein cent Unterschied = 1/100 Halbton).

Je weiter man im Quintenzirkel fortschreitet, je mehr Vorzeichen zu spielen sind, desto schlimmer wird die Intonation auf dem Klavier und der Orgel, weil die Terzen mit jedem Vorzeichen tiefer bzw. höher werden. Bläser und Streicher konnten und können dies mühelos ausgleichen, sie nehmen die Terzen und Sexten entsprechend höher oder tiefer und dann paßt es wieder. Als Posaunist spiele ich ein fis' höher als ein ges' und die Streicher tun es auch. Nur die Tastenmenschen sind bei reiner Stimmung aufgeschmissen.

C-Dur ist auf Tasteninstrumenten des 17. Jahrhunderts noch sauber zu spielen, F-Dur und G-Dur auch, ab Bb-Dur und D-Dur sind die Terzen schon hörbar verstimmt. Bei Es-Dur und A-Dur (mit jeweils drei Vorzeichen ist man im Grenzbereich und As-Dur und E-Dur (vier Vorzeichen) sind schon nicht mehr schön. Hier muß der Organist und Pianist einfach passen. Bach hat sich schon vor seiner Lüneburger Zeit darüber geärgert, daß Tonarten ab vier Vorzeichen nicht zu genießen waren, weil es die Tastenintrumente nicht hergaben. - Seitenanfang

Eine Lösung findet Andreas Werckmeister vor 1700 und Jens Johler läßt in seinem neuen Roman mit dem bezeichnenden Titel „Die Stimmung der Welt“ Bach und Werckmeister 1704 aufeinander treffen. Werckmeister hat das Problem des überzähligen Vierteltons dadurch gelöst, daß er die Terzen höher stimmte und erreicht damit eine gewisse Leidlichkeit bis zu fünf Vorzeichen. Bach läßt sich dadurch inspirieren und entwickelt eine temperierte Quintstimmung, in der die Terzen auf 700 cent gestimmt wird. Dadurch ist es möglich in allen Tonarten zu spielen - nur die Durterzen klingen für Bläser und Streicher zu hoch. Um die Praktikabilität dieser - noch rein theoretischen - Stimmung nachzuweisen, stimmt er sich ein Clavichor (einsaitiges Cembalo) auf die engen Quinten und kann mühelos in allen Tonarten spielen. - Seitenanfang

1717
Johler vertritt mit Eidam die Theorie, daß der berühmte französische Pianist Marchand nur deswegen vor dem denkwürdigen Klavierduelle mit Bach aus Dresden flüchtete, weil Bach seine chromatischen Fantasien und harmonisch neuen Wendungen auf einem Instrument mit temperierter Stimmung spielte und da jeder Pianist auf seinem Instrument spielte, konnte Marchand  mit dieser revolutionären Stimmung nicht mithalten. Daß das „wohltemperierte Klavier“ erst jetzt Jahre später erscheint, ist eine andere Sache, aber vor seinem Druck ist es von berühmten und kompetenten Pianisten etliche Male abgeschrieben worden und mit diesem Werk hat Bach die heutige Klavierstimmung im Prinzip durchgesetzt. - Seitenanfang
1722
Das „wohltemperierte Klavier“ wird gedruckt und ab seinem Erscheinen zum Standardwerk der Klavierliteratur.

Originaler Text
Das Wohltemperirte Clavier oder Praeludia, und Fugen durch alle Tone und Semitonia, so wohl tertiam majorem oder Ut Re Mi anlangend, als auch tertiam minorem oder Re Mi Fa betreffend.

Zum Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden besonderem Zeitvertreib

auffgesetzet und verfertiget von Johann Sebastian Bach.

p. t: Hochfürstlich Anhalt-Cöthenischen Capel-Meistern und Directore derer Camer Musiquen. Anno 1722.


verständliche Übersetzung (MS)
„Das Wohltemperierte Klavier“ oder „Vorspiele und Fugen in allen Tonarten und Paralleltonarten“, in Dur und Moll angefangen, und chromatisch sortiert.

Zur Übung und zur Verwendung für Klavier- und Theorieschüler  als auch für Fortgeschrittene, die sich weiterbilden wollen.

Komponiert und ausgearbeitet von Johann Sebastian Bach,

gegenwärtig
Kapellmeister und Orchesterdirektor am Hofe Anhalt-Köthens im Jahre 1722.
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Quellen:
Martin Geck: Johann Sebastian Bach. rororo-Monographien Bd. 80, Reinbek bei Hamburg 1993
Klaus Eidam: Das wahre Leben des Johann Sebastian Bach, piper TB, München 2000
Jens Johler: Die Stimmung der Welt, Alexander-Verlag, Berlin/Köln 2013
Links
http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Wohltemperierte_Klavier
http://de.wikipedia.org/wiki/Syntonisches_Komma
http://de.wikipedia.org/wiki/Pythagoreisches_Komma#
http://imslp.org/wiki/Das_wohltemperierte_Klavier_I,_BWV_846-869_(Bach,_Johann_Sebastian)
(alle Präludien und Fugen zum Lesen und zum Hören)
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Anmerkung:
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