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Verschiedenes - Editorial


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Editorial - Briefe an die Leser
Gesammelter Senf zu aktuellen Themen
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Temporäre partielle Mängel
Karneval 1996
 
 
Neulich, da war ich beim Arzt, muß man ja ab und zu mal hin, auch wenn das die Schulleitung gar nicht so gern sieht - ist ja klar, da muß vertreten werden, da sind Klassen unversorgt, also, ich war beim HNO und der wollte einen Hörtest mit mir durchführen.
 
War aber nix, hähäh, nich, ich hab nämlich gar nicht gehört, als ich dran war und man mußte mich holen. Ja, was ich sagen wollte: er hat den Hörtest mit mir durchgeführt und hat eine ganz tolle Diagnose gestellt: Temporäre partielle und frequentielle Senkung beidseitig.
 
Dann hab ich ihn gefragt, was das sein soll, und, ich bin ja nicht doof, also ich hab das verstanden. Im Prinzip heißt das, daß ich Tage habe, da hör ich wenig und es gibt Tage, da hör ich den letzten Knirps in der Klasse pupsen, ich mein, das riecht man zwar dann auch noch, aber eben erst später, wenn sich die ersten Kinder beschweren. Also, was ich sagen will, wenn es mir gut geht, höre ich auch gut und wenn nich, dann eben nicht, nicht wahr? oder wie man hier sagt: „Wo nix iss, da iss auch nix..
 
Das Tolle daran ist aber die frequenti- frequenzi, also die Senkung, die in Hertz gemessen wird, Hertz, wie die Autovermietung. Ja, das heißt nämlich, also wenn es mir schlecht geht, dann hör ich z.B. die Sekretärin ganz gut, weil die liegt in ihrem Tonfall oder wie man sagt in ihrer Stimmspektrabilität so, die hör ich also am Telefon immer sofort, die hör ich klar und deutlich - sozusagen, als ob sie neben mir steht. Die hör ich sogar, wenn es mir ganz schlecht geht. Ich mein, die hört mich auch ganz toll - also , sie hat mich bisher noch immer verstanden, wenn ich mich krankgemeldet habe.
 
Ja aber dagegen die Schulleitung: das ist also ein echtes Problem, nee nicht für mich, für die, ich mein, die können ja nichts dafür, daß ich die manchmal nicht höre. Ich geb mir ja alle Mühe - sag ich dann auch ..., also da eröffnen sich Möglichkeiten, das ist, also unwahrscheinlich ist das.
 
Also, wenn der Herr Wagner oder der Peter, je nachdem, ob man Frau XY oder anders heißt, also jedenfalls, wenn der Chef etwas von mir will, versteh ich das manchmal überhaupt nicht. Nicht, weil es der Chef ist, nee, aber der hat eine Sprechstimme, bei der ist meine partitielle frequentielle Senkung leider gerade ganz knapp unterhalb der Hörschwelle.
 
Ich mein,das ist einfach so, kann ja keiner was für nich? und der Mann ist ja auch flexibel, der hat das schon voll begriffen, deswegen klebt er mir auch immer gelbe Zettel an mein Fach etwa: der und der hat angerufen, oder: nimm Rücksprache mit der Orga oder: hast Du gleich Zeit? und so weiter. Erfinderisch ist er ja, das muß man ihm lassen, da nützt auch die partitielle frequentielle Senkung nix, aber wenn man Glück hat, dann ist der Zettel abgefallen oder er hat soviel Druck innerlich, daß sich das auf die Schreibhand überträgt - das gibt es ja, nicht wahr? Innere Spannung erzeugt äußere Spannung und wenn er kein Ventil hat, pfeift er uns eben an, also dann kann man auch nicht lesen, was er schreibt und dann ist mit der Kommunikation wieder nix.
 
Was Kommunikation ist, wißt ihr,ne? Also der eine spricht und der andere auch und dann geht das hin und her, und manchmal auch gleichzeitig und das, was gleichzeitig verstanden wird, das ist der Konsens oder so...Sagt Janosch, und der muß es ja wissen.
 
Ja und sowas wie die partitielle frequentielle Senkung bei den Ohren, das gibt es auch für die Augen, ich weiß nicht genau, wie das heißt, Rot-Grün-Blindheit oder Betriebsblindheit oder so ähnlich, sprich, wir sehen nur das, was wir sehen wollen und auf dem anderen Auge sind wir blond, nein blind.
 
Also, nehmen wir mal ein Beispiel, da war letztens wieder ein jiddisches Konzert und eine Kollegin kommt ja alle naselang mit so einem jiddischen Sämger an, von wegen Antinazi und Verhütung (nee, nicht die, ne andere...) und Verständigung und Toleranz und so, das steht ja auch alles in den Richtlinien und das ist ja auch PC, also pollitekelly korrrrekt, nee nicht Kelly-Family, aber das ist schon in Ordnung.
 
Also da war wieder was mit dem Sänger und der nimmt ja immer einen Haufen Schüler von uns mit auf die Bühne, erstmal sieht das gut aus, dann ist auch die Klasse kleiner und so haben wir alle was davon und diesmal gingen die sogar in das Studio und haben ‚ne CD gemacht, mit Pressekritik und Konzert und Grußwort von Rau und Süsmuth und Bubis hat auch noch Geburtstag gehabt und wie die Promis alle heißen. Jedenfalls war außer denen, die da Ding gemanaged haben, kaum eine Socke bei der Vorstellung da und ich hab mal gefragt, warum verschiedene Kollegen nicht da waren.
 
Spitzenreiter der Antworten war: Ich hab dat nicht gewußt, gefolgt von: ich hab die Plakate nicht gesehen. Das ist ein eindeutiger Fall von temporärer partitieller Blödheit, nein Blindheit, weil, die Schule war damit gepflaster und die Presse hat in der Woche viermal darüber berichtet, aber das ist einfach so, wir sehen nur was wir wollen. Ich sag das mal wahrnehmungspsychologisch: Wir sehen das alles so, wie wir glauben daß es so ist und das muß mit der Realität ja nix zu tun haben, oder?
 
Aber in den Zeugniskonferenzen, da war mit der Wahrnehmungsschwäche und dem partitiellen temporären Quatsch aus und vorbei, nee, was waren da alle spitz darauf, ihre Schüler rauf und runter zu stufen, und da wurde Gras wachsen gehört und unter der Hand wurden die Mehrheiten beschafft und alle paßten auf, wie die Schießhunde und es hat richtig Spaß gemacht, Mäuschen zu spielen, wie die Fächer sich gegenseitig ausspielten, ob denn jetzt der E-Kurs Englisch oder Deutsch wichtiger ist, und was zuerst gewechselt wird, weil:
 
Das geht auf das Selbstwertgefühl, da kann man sagen, ich bin wichtig, für mein Fach muß der Schüler, halt der/die SchülerInn mit großem I, einfach mehr tun und dann stimmt das Selbstbewußtsein wieder, sogar wenn man auf A12 sitzt und die nächsten Jahre drauf sitzenbleibt. Nee, was sind wir doch alle nett zueinander.
 
Und das ist bestimmt der Grund, warum das hier alles so bleibt,wie es ist: man kennt sich, ärgert sich auch, tut sich ein bißchen weh, aber es bleibt alles im Rahmen, keine Experimente (irgendwie ist Adenauer allgegenwärtig) und wenn man so aufeinanderhockt, wie wir, werden wir irgendwann alle wie ein Ehepaar unter der warmen Decke, das sich so gut kennt, daß es nix mehr aus der Ruhe bringt und dann schaffen wir die paar Jahrzehnte bis zur Pensionierung auch noch. Wir brauchen uns für Integration gar nicht mehr fit zu machen. Wir integrieren hier soviel, daß es auf die paar Macken wirklich nicht mehr ankommt und wer unter mir Schulleiter ist, ist mir sowieso wurscht.
 
 
Martin Schlu