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Editorial
- Fundamentalismus und Angie Merkel
oder:
Die Türken vor Wien und Brüssel
- 10. Oktober 2004
-
Liebe Leser,
es fällt ein bißchen schwer, eine
Standortbestimmung zu wagen, weil die letzten Monate
zuviel alte Weltbilder zusammengebrochen sind und das
liegt vermutlich daran, daß einige Gesetze des
menschlichen Zusammenlebens offenbar nicht mehr
funktionieren. Die Anschlagsserie in Rußland, ib.
der Überfall auf Kinder in Beslan hat gezeigt,
daß nicht nur die russischen Führung (sprich
Putin) jämmerlich versagt hat, die Attentate haben
auch deutlich gemacht, daß man nicht mehr glauben
kann, durch Verhandlungen einen schnellen Erfolg zu
erzielen. Natürlich ist die Situation in
Tschetschenien dadurch eskaliert, daß Gewalt immer
mehr Gegengewalt erzeugt hat und spätestens nach der
"Befreiung" des Moskauer "Nord-Ost-Theater" war klar,
daß Putin keinen Pardon mehr (?) kennt und
sicherlich nicht die Tschetschenen ihr Land selbst
verwalten lassen wird, obwohl dies vermutlich das Problem
lösen würde. Nach den Doppelanschlägen auf
zwei Flugzeuge und der Geiselnahme einer ganzen Schule
mit Hunderten Toten hat Putin mit Bush, hat Rußland
mit Amerika gleichgezogen und die Strategie ist bei
beiden die gleiche: mehr Druck, mehr Gewalt und
logischerweise auch mehr Gegengewalt.
Aus den Siebziger Jahren erinnere ich mich an eine
Diskussion der "Frankfurter Schule" zum Thema Terror und
Terrorismus. Damals wurde "Terror" als Schreckensgewalt
der Herrschenden definiert (und ich habe noch die
Schulbücher in Geschichte im Kopf, in denen vom
"Terrorregime" der Jakobiner nach 1789 die Rede war),
"Terrorismus" wurde dagegen als Gegengewalt aus dem Volk
definiert, dem "Terror" ein Ende zu setzen und damit das
Volk zu befreien. Kluge Denker haben damals die
Diskussionen beherrscht: Max Horkheimer, Ludwig Marcuse,
später auch Heinrich Böll und Günter
Grass. Alle gemeinsam definierten Freiheit als
selbstbestimmte Lebensform, deren Grenzen da lagen, wo
die der anderen gestört wurden.
Heute müßte man mit den Ideen von damals aus
diesem Grund auch von einem "Terrorregime" in Amerika und
Rußland sprechen: in diesen Ländern werden die
Ideen der regierenden Präsidenten durchgesetzt,
andere Länder nach deren Vorstellungen zu
beherrschen - allerdings ohne sich klar zu machen ,
daß dies in absolutem Widerspruch zur Kant'schen
Lehre steht: "Freiheit ist die Freiheit der
Andersdenkenden". Wir hätten die gesamte Eskalation
der "Märtyrer"-Selbstmorde nicht so, wenn man den
"Terroristen" nicht ständig neues Futter geben
würde. Selbst nachdem Donald Rumsfeld zugegeben hat,
daß der Kriegsgrund im Irak auf einer
"Fehlinformation" der CIA beruht habe, entblödet
sich Bush nicht, auf seinen Wahlkampfveranstaltungen den
Krieg zu rechtfertigen und daß damit weitere
Anschläge der "Terroristen" provoziert werden, liegt
auf der Hand - ebenso, daß in Tschetschenien und
Umgebung noch jede Menge Pulverfässer auf ihre
Explosion warten, die todsicher durch Putin angesteckt
werden. Aber wir sehen zu und schweigen, weil wir das
russische Erdgas brauchen und außerdem einen Sitz
im Sicherheitsrat wollen: "Erstens, vergeßt nicht
kommt das Fressen"...(Brecht, in "Mahagonny")
Nach westlichen Maßstäben ist da nichts mehr
zu machen. Allerdings gibt es ein Land, das wir so
schnell wie möglich ins Boot holen müssen,
damit es noch zwischen Europa und der islamischen Welt
vermitteln kann: die Türkei. Sie ist vermutlich die
einzige Brücke, die wir noch zu den abdriftenden
islamischen Fundamentalisten haben und wenn wir schlau
sind, rollen wir für das Land zur EU-Aufnahme einen
roten Teppich aus. Die Türken waren zwar zweimal vor
Wien und konnten in Europa bislang nicht richtig
Fuß fassen. Sie haben uns zwar den Kaffee beschert
und in den Sechzigern viele Gastarbeiter, deren Kinder
und Enkel hier geboren wurden und halbwegs integriert
sind. Sicher, ein bißchen gefoltert wird immer
noch, und nur mit Mühe konnte man den
türkischen Präsidenten davon abhalten, Ehebruch
unter Strafe zu stellen, aber was soll's? Schon zu
Mozarts Zeiten war türkische Lebensart sehr in Mode,
ohne daß es einen Massentourismus nach Antalya und
anderswo gab und es hat Europa unterm Strich nur genutzt.
Das Abendland mit der katholischen Fundamentaltheologie
hat seinen Martin Luther schon hinter sich, innerhalb des
Islams steht er leider noch aus. Wir brauchen nun erst
recht die Türkei, die aufgrund ihrer Praxis eines
vergleichsweise liberalen Islam dessen Fundamentalisten
theologisch widerlegen kann und damit den Gotteskriegern
die Geschäftsgrundlage entzieht - gleichzeitig
hätten wir eine Brücke zwischen liberaler
christlicher und liberaler islamischer Gesellschaft.
Als Gegenleistung würden wir dafür Angie Merkel
aus ihrer politischen Position entsorgen. Sie nimmt die
Türkei immer noch nicht für voll und faselt nur
von einer "privilegierten Partnerschaft" und wer sie im
kurzen schwarzen Rock gegenüber Arafat gesehen hat,
kann sich nicht unbedingt vorstellen, daß sie
weiß, wie man sich gegenüber Muslimen benimmt.
So gesehen ist Frau Merkel eher ein Sicherheitsrisiko.
Einerseits kann ihre Partei heute nicht mehr auf
ausländerfeindliche Parolen setzen, andererseits
werden die rechtsradikalen Parteien sich nicht mit einer
noch so rechten CDU anfreunden können. Selbst der
große dicke Altkanzler Helmut Kohl hat immerhin
eine türkische Schwiegertochter - damit hat er mehr
für die Verbindung Europas und der islamischen Welt
getan als für jede deutsche Einheit. Am besten tun
wir Angie in die politische Mottenkiste und auf den
Müllhaufen der Geschichte.
Güle Güle
Martin Schlu
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