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Editorial
Die Sommerhitze und ihre Auswirkungen auf das
Mundwerk
13. August 2003
Bei konstant 36 - 39 Grad ist es bald kein
Vergnügen mehr, Ferien zu haben und nichts tun
zu müssen. Tagsüber stöhnen die
lieben Mitmenschen über die Hitze (obwohl
viele so bescheuert sind, sich dann auch noch in
die Sonne zu legen) und ignorieren die aktuelle
Reklame der Stiftung Dermatologie, auf der ein Kind
von einer Figur im schwarzen Outfit fortgetragen
wird ("Holen Sie ihr Kind aus der Sonne, bevor es
jemand anders tut"), nachts stöhnen sie aus
anderen Gründen und wenn alle Fenster offen
sind, schwebt ab und zu ein Orgasmus durch die
Nacht und kringelt sich ins Ohr - eigentlich ist es
selbst dafür zu heiß. Im Fluß zu
baden ist gegenwärtig mangels Wasser auch
nicht der Bringer, und weil die Städte
früher die Hallenbäder aus Geldnot
geschlossen haben und das Schulschwimmen ersatzlos
ausfiel, können die meisten Kinder heute kaum
noch schwimmen und darum ertrinken auch immer mehr
von ihnen - leider letztens auch wieder ein Kind
bei uns am Rheinstrand.
Vielleicht hat es ja mit dem durch die Hitze weich
gewordenen Gehirn und dem Sommerloch zu tun,
daß man sich gegenwärtig mit dem
Bübchen Mißfelder herumschlägt. Es
paßt ganz gut ins Bild, daß nach Jahren
der Kostendämpfung bei Krankenkasse und
Beihilfe ein junger Nachwuchspolitiker fordert, den
Alten in Zukunft keine "Luxusoperationen" mehr zu
bezahlen. Nun argumentieren Ärzte anders als
Rechnungsprüfer, Ich kann auch schwimmen,
werde vermutlich nicht im Rhein ertrinken und
deshalb auch vielleicht mal siebzig und älter.
Daß ich dann persönlich wahrscheinlich
immer noch arbeiten muß, um mir dann einen
Billig-Krückstock vom Flohmarkt zu kaufen,
weil es für mehr nicht reicht, konnte ich mir
schon vor Jahren ausrechnen und habe dafür die
unsäglichen Sätze von Herrn
Mißfelder nicht gebraucht. Die
Wahrscheinlichkeit, daß meine
Jahrgangsgenossen noch leben, ist relativ
groß (wir haben auch alle noch schwimmen
gelernt) und da wir in den Sechziger Jahren mit
vierzig Kindern in der Klasse waren, uns in den
Siebzigern um die Studienplätze gekloppt
haben, in den Achtzigern um die Jobs, in den
Neunzigern um die Kindergartenplätze für
unsere Kinder, sind wir das Kloppen gewöhnt -
mit so einem Jüngelchen würde meine
Generation sicherlich mit links fertig.
Es ändert allerdings nichts mehr an dem
gefährlichen Terrain, auf dem gerade gespielt
und gerechnet wird. Die gesellschaftliche Tretmine,
die Mißfelder ausgelegt hat, wird hochgehen -
es ist nur die Frage, wen es dann treffen wird.
Meine Mutter wahrscheinlich nicht mehr - mit 78
Jahren kann sie sich beruhigt zurücklehnen,
weil sie die Auswirkungen vermutlich nicht mehr
erleben wird und auch in zehn Jahren noch auf die
Besitzstandswahrung pochen könnte, wenn das
römische Recht nicht gebrochen wird und
Gesetzesänderungen auch rückwirkend
Konsequenzen haben könnten. Ich bin
zuversichtlich, daß die jetzige
Rentnergeneration dafür vor den EU-Gerichtshof
ziehen würde und sie würden
natürlich recht bekommen. Aber ich selber bin
heilfroh, daß ich außer Schule auch
noch was anderes gelernt habe - vermutlich kann man
mich nach meiner Pensionierung mit siebzig in
Kaffeehäusern erleben, wo ich für ein
paar Münzen Musik mache, solange die Finger
nicht zu zitterig sind.
Bloß, was machen dann eigentlich unsere
Kinder? Keine Jobs mehr, die Rentenkasse
aufgelöst um Schulden zu bezahlen,
Krankenversicherung unbezahlbar - wir kriegen
ziemlich sicher amerikanische Verhältnisse
ohne Pflichtversicherung und mit Millionen von
Suppenküchenessern. Dann darf dieser Staat
aber auch keine gesetzliche Rente mehr einziehen
lassen. Schließlich wird keiner mehr bei
einer Bank ein Konto haben wollen, die nur das
Gehalt einzieht, aber den Dispo immer weiter
verkürzt. Also: Schwarzarbeit in Massen,
Tauschwirtschaft für alles und jedes und die
heimliche Währung werden dann vermutlich
Dienstleistungen auf gegenseitiger Basis.
Also, wer demnächst etwas von mir will,
schreibt mir am besten vorher, was er mir anbieten
kann: Kinderkleidung Gr. 176, Noten, eine
Autoinspektion, vielleicht regelmäßig
die gelesene Zeitung von gestern... im Gegenzug
helfe ich bei Hausaufgaben, schreibe Briefe oder
anderes und bespiele Taufe, Hochzeit und Todesfall
- "Gruftmucke" nennt man in Musikerkreisen so etwas
- und zum Leichenschmaus ist man auch noch
eingeladen. Dann bringe ich meine Familie halt
mit.
Mit Volldampf in die Nachkriegszeit.....
Martin Schlu
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