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Editorial
Friedman, Möllemann, Beckmann und die
deutsche Hysterie
30.5.2002
Liebe Leser,
Israels Premier Scharon hat definitiv gesagt, er
bedaure, daß er Arafat "nicht schon
längst liquidiert" habe, Israel versucht den
Eindruck zu erwecken, es sei bei dem Massaker im
Flüchtlingslager eher ein Betriebsunfall
gewesen, Jürgen Möllemann macht endlich
mal den Mund auf , nennt Scharon einen Verbrecher
und muß sich dann von Michael Friedman des
Antisemitismus bezichtigen lassen. Möllemann
soll sich entschuldigen, Friedman nicht. Am Anfang
der Woche erlebe ich, wie der Moderator Beckmann
versucht, Möllemann als rechten Antisemiten
fertigzumachen (er hat es nicht geschafft,
Möllemann hatte einfach bessere Argumente),
gestern steht in der Zeitung, Genscher habe ihn
zurückgepfiffen und heute lese ich dort,
daß die FAZ sich weigert, den neuen Roman von
Martin Walser abzudrucken, weil das Opfer dieses
Kriminalromans ein sehr bekannter Kritiker sein
soll (Marcel Reich-.Ranicki) und damit der Roman
antisemitisch sei. Abgesehen davon, daß es
vollkommen egal ist, ob Scharon Jude, Moslem,
evangelischer oder katholischer Christ ist, Hindu,
Buddhist oder sonstwas - die Kritik, die an ihm
(wie ich finde, zu recht) geübt wird, richtet
sich gegen einen israelischen Politiker und nicht
gegen einen Vertreter einer Religion. Dies sei
deutlich gesagt u.a. an Paul Spiegel, Michael
Friedman und alle die, die der Meinung sind, man
dürfe einen Verbrecher nicht Verbrecher nenne,
allein deshalb, weil er Jude ist. Etwas
Ähnliches hatten wir zu Beginn des 20.
Jahrhunderts: es nannte sich "Erbschuld" wurde
später zum "Erbfeind" und richtete sich damals
gegen Frankreich, weil bis zur Völkerschlacht
in Leipzig 1813 gewisse Teile Deutschlands ja
französisch waren.
Würde man sich der Argumentation, die sich
gegenwärtig in diesem Land breit macht,
anschließen, dann müßte vor der
Aufnahme jedes Prozesses erst einmal gefragt
werden, welche Religion der Angeklagte habe: als
Jude ist er vor jeder Anklage sicher, weil
Deutschland ja seit Hitler... usw... usw. - Ebenso
dürfte man keinen Ausländer anklagen,
weil man damit ja zeigen würde, daß man
nationalistische Gefühle hegte. "Haben Sie
etwas gegen Ausländer?" fragen mich meistens
bestimmte ausländische Schüler, wenn ich
sie bei etwas Verbotenem erwischt habe und sie dann
verknackt werden oder eine Klassenkonferenz droht.
Hier ist die Auswahl groß; Araber, Afrikaner,
Moslems, Schwarze, Gelbe, Rote, Bunte - alles was
nicht so ist, wie man sich den
Durchschnittsdeutschen vorstellt. In dem
Augenblick, in dem ich Kritik an irgendjemanden
äußere, bin ich - bitte schön -
nicht antisemitisch eingestellt, weil mein
Kritikgegenstand rein zufällig jüdischer
Religion ist und auch nicht
ausländerfeindlich, wenn ich ein
ausländisches Kind beim Klauen erwische. Ich
möchte mir von keinem vorschreiben lassen,
mein Maul zu halte, bloß weil es sein
könnte, daß derjenige, den ich
kritisiere, irgendeiner Volksgruppe,
Religionsgruppe oder einer Lobby angehört,
deren Mitglieder aufgrund bestimmter Konventionen
der "political correctness" unter Denkmalschutz
stehen und eine Kritik an ihnen den Tatbestand der
Majestätsbeleidigung erfüllt. Soviel ich
weiß, gilt dieses Vergehen seit 1918 als
abgeschafft.
1977 gab es eine ähnliche Hysterie, als die
RAF ihre wichtige Zeit hatte. Alle die, die ein
bißchen Verständnis für die
Gründe hatten, warum ein Krieg von der RAF
gegen die Mächtigen geführt wurde, galten
als verdächtig. Heinrich Böll galt als
"Sympathisant" und durfte nicht in der Schule
gelesen werden, Studenten galten als
verdächtig, wenn sie bei einer Demonstration
gesichtet wurden und wer nicht auf dem "Boden der
freiheitlich-demokratische Grundordnung stand" oder
gar in der DKP war, konnte nicht Lehrer werden.
Vermutlich bin ich damals auch abgehört worden
und irgendwo existiert noch ein Dossier, weil ich
als Chefredakteur einer Schülerzeitung damals
aufgefallen bin.
Wo ist der Mittelweg, der die Fundamentalisten
bremst und ein gesundes Maß an
Menschenverstand erlaubt. "Freiheit ist die
Freiheit der Andersdenkenden" sagt Kant.
Möllemann hat es erkannt, Friedman nicht.
Freiheit bedeutet auch, Freigeist sein zu
dürfen.
Martin Schlu
Nachtrag am 6.6.2003: Möllemanns Tod
ändert nichts am Sachverhalt. Eine kritische
und unbequeme Stimme ist verstummt und wir werden
später noch sehen ob jemand (und wer) eine
"klammheimliche Freude" (vgl. die
Auseinandersetzung nach Bubacks Ermordung 1976)
daran hat. Cui bono?
Respekt, Jürgen Möllemann!
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