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Erstes Buch:
Der alte Seebär

 

Kapitel I
Der alte Seebär im »Admiral Benbow« 

Kapitel II
Der Schwarze Hund taucht auf und verschwindet 

Kapitel III
Der schwarze Fleck 

Kapitel IV
Die Seemannskiste
 

Kapitel V
Das Ende des Blinden

Kapitel VI
Die Papiere des Käpt'ns

Robert L. Stevenson: Die Schatzinsel (Treasure Island)
übersetzt von Martin Schlu, August 2008

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Kapitel VI
Die Papiere des Käpt'ns
Wir ritten den Weg, so schnell, wie wir konnten, bis wir vor Dr. Liveseys Tür standen. Das Haus war auf der Eingangsseite dunkel.
 
Mr. Dance befahl mir, abzusitzen und zu klopfen und Dogger hielt mir beim Absteigen den Steigbügel. Die Tür wurde sofort vom Dienstmädchen aufgemacht.
 
"Ist Dr. Livesey da?" fragte ich.
 
Sie verneinte. Er sei zwar am Nachmittag gekommen, nun aber zum Dinner im Speisesaal und würde den Abend mit dem Gutsherren verbringen.
 
"Dann gehen wir auch dahin" sagte Mr. Dance.
 
Dieses Mal saß ich nicht auf, weil die Strecke zu kurz war, lief aber mit Doggers Zügel bis zum Gartentor und sah auf die lange, baumlose, von Mond beschienene Straße, die durch eine großen, alten Garten verlief, an deren Ende eine weiße Linie die Umrisse der großen Gebäudeteile zeichnete. Hier stieg Mr. Dogger ab, und daß er mich mit sich führte, zeigte mir, daß mein Wort in diesem Haus etwas galt.
 
Der Diener führte uns durch einen dunklen Gang und zeigte uns an dessen Ende eine große Bibliothek, vollgestopft mit Büchern und Büsten auf den Regalabschlüssen, vor denen der Gutsherr und Dr. Livesey saßen, eine Pfeife in der Hand und vor einem großen Kaminfeuer.
 
Ich hatte den Gutsherren noch nie von so nahe gesehen. Er war ein großer Mann, über sechs Fuß (1,80 m) groß, von breiten Proportionen und er hatte ein offenes, grobes und kantiges Gesicht, verwittert, zerfurcht und strapaziert in seinen langen Reisen. Seine Augenbrauen waren schwarz und immer in Bewegung und das gab ihm den Anflug von Temperament , nicht unangenehm, aber schnell und wach.
 
"Kommt herein, Mr. Dance," sagte er, sehr höflich und würdevoll.
 
"Guten Abend, Dance," sagte der Arzt mit einem Lächeln. "Und auch dir, Freund Jim, einen guten Abend. Welcher Wind weht euch hierhin?"
 
Der Verwalter nahm formelle Haltung an und berichtete über seine Beobachtungen wie in einer Schulstunde und man hätte sehen müssen, wie die beiden hohen Herren sich nach vorne lehnten, sich gegenseitig ansahen und vor lauter Interesse und Überraschung vergaßen, an ihren Pfeifen zu ziehen.
 
Als sie hörten, wie mein Mutter zurück zum Gasthof gegangen war, schlug sich Dr. Livesey geradezu auf seine Schenkel und der Gutsherr rief "Bravo!" und zerbrach seine lange Pfeife vor Begeisterung am Kamin. Noch vor dem Ende des Berichtes war Mr. Trelawney (was, wie man sich erinnern wird, der Name dieses Gutsherren war) von seinem Sessel aufgesprungen, auf und ab durch den Raum gegangen und der Arzt hatte seine gepuderte Perücke abgenommen, als ob er so besser hören könne, und sah so sehr merkwürdig aus, denn er hatte darunter eine große Glatze.
 
Schließlich hatte Mr. Dance seinen Bericht beendet.
 
"Mr. Dance," sagte der Gutsherr, "Ihr seid ein sehr edler Mann. Das Niederreiten dieser schwarzen, furchtbaren Mißgeburt betrachte ich als eine gute Tat, Sir, wie das Ausmerzen einer Küchenschabe. Der Hawkins-Junge ist unser Trumpf in dem Spiel, davon bin ich überzeugt. Hawkins, würdet Ihr bitte nach dem Diener klingeln? Mr. Dance sollte etwas Bier bekommen."
 
"Und, Jim", fragte der Doktor, " hast du das, hinter dem sie her waren?"
 
"Hier ist es, Sir", sagte ich und gab ihm das in Ölpapier eingewickelte Paket.
 
Der Doktor sah es genau an und seine Finger zuckten danach, es zu öffnen, doch stattdessen steckte er es still in die Taschen seines Umhangs.
 
"Herr Gutsherr", sagte er, "wenn Mr. Dance sein Bier bekommen hat, sollte er für heute aus dem Dienst hier entbunden werden, aber Jim Hawkins möchte ich heute nacht bei mir im Hause haben und, mit Ihrer Erlaubnis, möchte ich anregen, ihm kalten Pudding bringen und ihn hier essen zu lassen.
 
"Wie Sie wollen, Livesey", sagte der Gutsherr, "Hawkins hat heute mehr verdient als nur kalten Pudding."
 
So wurde nun eine große Portion kalter Pudding gebracht und auf einen Beistelltisch gestellt und ich hatte ein herzhaftes Abendessen, denn ich hatte Hunger wie ein Wolf, während Mr. Dance in den Feierabend hinauskomplimentiert wurde.
 
"Jetzt reden Sie", sagte der Doktor.
 
"Jetzt reden Sie", sagte der Gutsherr im gleichen Atemzug.
 
"Am besten nur einer gleichzeitig", lachte Dr. Livesey, "Sie haben von diesem Flint gehört, vermute ich?"
 
"Von ihm gehört?", rief der Gutsherr aus. "Nur gehört, fragen Sie? Er war der blutrünstigste Pirat, der jemals gesegelt ist. Blackbeard oder wie man sagt, der Schwarzbart, war gegen Flint ein Meßdiener. Die Spanier hatten so eine wahnsinnige Angst vor ihm, daß ich - was ich nur Ihnen sage - manchmal stolz bin, daß er ein Engländer war. Ich habe seine Toppen mit eigenen Augen gesehen, kurz vor Trinidad, und dieser Hosenscheißer von Kapitän, dieses wandelnde Rumfaß, drehte bei und fuhr zurück - bloß zurück - in den Hafen von Port of Spain, Sir."
 
"Doch, ich habe von ihm gehört, " sagte der Arzt. "Doch die Frage ist, hatte er Geld?"
 
"Geld", rief der Gutsherr aus. "Habt Ihr nicht die Geschichte gehört? Wonach waren die Gauner denn her, wenn nicht hinter dem Geld? Warum geben sie sich solche Mühen, wenn nicht wegen des Geldes? Für was würden sie denn ihr jämmerliches Leben riskieren, wenn nicht für Geld?"
 
"Das werden wir bald wissen", antwortete der Doktor. "Aber Ihr seid so ein schwatzhafter Hitzkopf, daß ich noch kein Wort sagen kann. Was ich wissen möchte, ist: wenn ich vermute, daß das, was in meiner Tasche steckt, eine Angabe ist, wo Flint seinen Schatz vergraben hat, wäre dieser Schatz es wert, gehoben zu werden?"
 
"Wert, Sir?", rief der Gutsherr aus. "Er wäre soviel wert, daß ich nur sagen möchte, ich würde sofort in Bristol ein Schiff ausrüsten lassen und Euch und Hawkins mitnehmen und ich fände den Schatz, auch wenn ich ein Jahr suchen würde."
 
"Wunderbar", erwiderte der Doktor. "Nun, wenn Jim zustimmt, werden wir das Päckchen öffnen", und legte es vor ihn auf den Tisch.
 
Das Bündel war zusammengenäht und der Doktor mußte seinen Instrumentenkoffer holen und ein paar der Nähte mit seinem Skalpell öffnen. Es enthielt zwei Dinge - ein Buch und ein gefaltetes Pergament.
 
"Zuerst schauen wir in das Buch", stellte der Doktor klar.
 
Der Gutsherr und ich schauten ihm beide über die Schulter, als er es öffnete, denn Dr. Livesey hatte mir freundlich erlaubt, vom Seitentisch, wo ich gegessen hatte, aufzustehen und bei dem Beginn der Suche zuzuschauen
 
Auf der ersten Seite waren nur ein paar geschrieben Notizen, wie, wenn man eine Feder in der Hand ausprobiert, ob sie auch schreibt. Eine war die gleiche wie auf Billy Bones Tätowierung "Billy Bones Verlobte", dann gab es noch "Mr. W. Bones, Maat", "Kein Rum mehr!", "Weg von den Palmen hat er ess gemacht" und andere Sprüche - meistens wenige Wörter, aber insgesamt unbeschreiblich. Ich konnte seine Rechtschreibung nicht fassen - was "ess" oder "er ess" bedeuten sollte, war nicht klar - ein Messer in den Rücken oder etwas Anderes?
 
"Jedenfalls keine Erklärung", sagte Dr. Livesey nach der Lektüre.
 
Die nächsten zehn oder zwölf Seiten waren mit einer Reihe von merkwürdigen Einträgen gefüllt. Sie hatten alle am Beginn ein Datum und am Ende einen Summeneintrag in Geld stehen, wie in allgemein üblichen Kontobüchern, aber an Stelle einer ausführlichen Beschreibung gab es nur verschiedene Zahlen zwischen den beiden Enddaten, die ständig variierten. Am 12. Juni 1745 zum Beispiel stand da die Summe von siebzig Pfund, die an jemanden ausgehändigt worden war, doch es gab nichts als sechs Kreuze um den Grund zu erklären. In wenigen Fällen - vielleicht um sicherzugehen - war der Ort hinzugefügt, z.B. "vor Caracas" oder manchmal auch die Angabe der Position, z.B. "62° östliche Länge 17 min 20 sec, 19° nördliche Breite 2 min 40 sec". Die Aufzeichnungen gingen über fast zwanzig Jahre, die Einträge bekamen im Lauf der Zeit immer größere Summen und am Ende gab es eine große Summenrechnung aus fünf oder sechs Zwischensummen und hinter dem Ergebnis stand: "Anteil von Billy Bones".
 
"Ich kann es mir nicht erklären", sagte Dr. Livesey.
 
"Das ist doch sonnenklar", rief der Gutsherr. "Das ist das Kontobuch des toten Schurken. Die Kreuze stehen für die Namen der gesunkenen Schiffe oder die der geplünderten Städte. Die Summen sind der Beuteanteil und wo es mehrdeutig gemeint sein könnte, hat er Zusätze gemacht wie "vor Caracas". Hier, seht Ihr, gab es ein Unglücksschiff, das vor dieser Küste gesunken ist. Gott sei den Seelen der Ertrunkenen und Ermordeten gnädig, sie sind wahrscheinlich schon zu Korallen geworden."
 
"Richtig!", sagte der Doktor, "Da siehst du, wie es Reisenden gehen kann. Richtig! Und die Mengen wachsen, wie eine Rose am Stock."
 
Es war wenig sonst in diesem Band, aber einige wenige Stellen gab es, an denen die Seiten frei gelassen worde waren und es gab eine Umrechnungstabelle für französische, englische und spanische Währungen.
 
"Schlaues Kerlchen!", stellte der Doktor fest, "den konnte man nicht übers Ohr hauen."
 
"Doch jetzt", rief der Gutsherr, "schauen wir das andere Päckchen an."
 
Das Papier war an vielen Stellen versiegelt - schon fast wie eine Kappe, die als Schutz an das Tauende aufgebracht wird - und ich nahm an, daß es das gleiche Siegel war, wie das in der Tasche des toten Käpt'n. Der Doktor öffnete die Siegel mit großer Sorgfalt und auf einmal fiel eine Karte einer Insel heraus - mit Längen- und Breitenangaben, Meerestiefen, Namen von Bergen und Hügeln, Buchten undEinfahrten und einfach jedem Detail, das nötig war, um ein Schiff zu einem sicheren Ankerplatz vor der Küste zu bringen. Diese Insel war vielleicht fünfzehn Kilometer lang und acht Kilometer breit, gekrümmt - etwa in der Form eines aufstehenden fetten Drachens, wie man sagen könnte - und sie hatte zwei von Land umschlossenen Hafenbuchten und einen Hügel in der Mitte, der mit "Das Fernrohr" bezeichnet war. Es gabe mehrere Additionen späteren Datums, doch über allem gab es Einträge dreier Kreuze mit roter Tinte: zwei im nördlichen Teil der Insel und eine im Südwesten und neben dem letzten Eintrag stand, in der selben roten Tinte - in einer sauberen Handschrift, ganz anders als die zitterige Schrift des Käpt'ns - der Eintrag: "Hauptteil des Schatzes hier."
 
Auf der Rückseite der Karte hatte die gleiche Hand weitere Informationen geschrieben:
 
Hoher Baum, Fernglas schultern, Punkt suchen nach N von NNW.
Skelettinsel, OSO und von O.
zehn Fuß (dreieinhalb Meter)
Das Barrensilber ist im nördlichen Versteck, man findet es am Ende des östlichen Hügels, zehn Fuß südlich de schwarzen Felsspitze in Blickrichtung.
Die Waffen sind leicht zu finden: Sandhügel, nördlichster Punkt des Kaps der nördlichen Einfahrt, das Lager ist östlich und einen Strich nördlich
J.F.
 
Das war alles, so kurz und unverständlich es für mich war , doch es versetzte den Gutsherrn und den Doktor in helles Entzücken.
 
"Livesey," sagte der Gutsherr, "Ihr werdet Eure kümmerliche Praxis sofort zumachen. Morgen fahre ich nach Bristol. In drei Wochen, was sage ich - in zwei Wochen, vielleicht sogar in zehn Tagen haben wir das beste Schiff, das man kriegen kann und die ausgebuffteste Mannschaft in ganz England. Hawkins kommt als Kajütjunge mit. Du wirst einen fabelhaften Kajütjungen abgeben, Hawkins. Ihr, Livesey, Ihr werdet Schiffsarzt, ich bin der Admiral. Wir nehmen Redruth, Joyce, und Hunter mit, werden guten Wind haben, eine schnelle Hinfahrt und keine großen Schwierigkeiten den Punkt zu finden und das Gold einzusacken. Dann fahren wir nach Hause und den Rest unseres Lebens verbringen wir mit Kartenspielen und Faulenzen."
 
"Trelawney," sagte der Doktor, "ich gehe mit Euch und ich lege für Jim meine Hand ins Feuer und wir garantieren Euch unserer Unterstützung. Es gibt nur einen Mann, vor dem ich Angst habe."
 
"Wer soll das sein?" rief der Gutsherr. "Nennt mir den Namen des Schweinehundes!"
 
"Ihr seid es!", erwiederte der Doktor. "Ihr könnt den Mund nicht halten und seid geschwätzig. Wir sind nicht die Einzigen, die diese Karte kennen. Die Ganoven, die das Gasthaus überfallen haben, sind gesetzlose Verbrecher, die den Rest ihres Lebens versuchen werden, diesen Schatz zu finden. Dem Rest, der auf dem morschen Kahn geblieben ist und etlichen anderen, die wir noch nicht mal kennen, traue ich alles Schlechte zu und die werden uns überallhin folgen, um an das Gold zu kommen. Bis wir in See stechen, darf deswegen keiner von uns alleine sein. Jim und ich werden eine Zeitlang zusammenbleiben, Ihr nehmt Joyce und Hunter mit, wenn Ihr nach Bristol reitet und von jetzt an bis wir fertig sind, darf keiner von uns auch nur das kleinste Wort darüber verlieren, was wir gefunden haben!"
 
"Livesey," erwiederte der Gutsherr, "Ihr habt, wie immer recht. Ich werde schweigen wie ein Grab!"
 
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