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Spätrenaissance - Venedig - die Akustik in San Marco


Spätrenaissance

Venezianische Musik

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Biographie G, Gabrielis

Kompositionslehre Gabrielis
1. Hintergründe
2. Theorie
3. Aufführungspraxis
3.1. Raumhall und Modulationsgeschwindigkeit
3.2.Aufstellung und Aufteilung der Chöre
3.3. Stimmbesetzung, Einzelchöre und Verstärkungschöre
3.4. Takt, Dirigat und Koordination der Chöre
3.5. Realisation der Werke - Kommentar zu Notenausgaben.

4. Beispiele
5. Zusammenfassung
6. Literatur

3.1. Raumhall und
Modulationsgeschwindigkeit
aus: Kompositionstechnik und Aufführungspraxis mehrchöriger Werke der venetianischen Spätrenaissance - dargestellt am Beispiel Giovanni Gabrielis in San Marco/Venedig. Überarbeitete Staatsarbeit von Martin Schlu, Bonn 1984/2000/2011

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(S. 46) "Die Dauer der Nachhallzeit (vom Verstummen der Schallquelle bis zum Verschwinden des Schalls aus dem Raum) ist abhängig
a) von der Größe des Raumes,
b) von der Art und dem Schallschluckgrad seiner Begrenzungsflächen
c) von der Anzahl und der Kleidung der anwesenden Menschen...

 ... Der Nachhall entsteht durch die Schallrückwürfe der Begrenzungsflächen des Raumes. Schallabsorbierendes Material verkürzt den Nachhall, schallreflektierendes Material verlängert ihn. Jedem Werkstoff ist die Bevorzugung und Benachteiligung bestimmter Frequenzbereiche eigen. Der Nachhall ist also nicht in allen Tonhöhenbereichen gleich. Es ist also nicht nur die Dauer des Nachhalls, sondern auch die Frequenzabhängigkeit des Nachhalls, die der Musik ganz bestimmten Klangcharakter verleiht" (Blaukopf, 1962, S. 238/239) .

Raumhall ist also abhängig von der Architektur eines Raumes, der Beschaffenheit seiner Wände und dem Frequenzspektrum der Musik, die in ihm gespielt wird. Hohe Frequenzen erzegen durch ihre gradlinige Abstrahlung mehr direkten Hall, sie haben eine schnellere akustische Ansprache als tiefe Frequenzen und sind sehr leicht räumlich zu orten. Tiefe Frequenzen wiederum benötigen eine längere Einschwingzeit, erzeugen mehr indirekten Hall und sind akustisch schwerer zu orten. Je mehr schallschluckende Masse in einem Raum enthalten ist, umso geringer ist dann der Nachhall.

Oberflächenstrukturen im Inneren der Basilika San Marco/Venedig: Marmor, Mosaiken, Rundungen
Foto: Martin Schlu 2001

(S. 47) Die Abbildungen zeigen die Beschaffenheit des Altarraumes im Nordosten. Auffällig sind die glatten Marmorwände, die großzügige Raumaufteilung und die verwinkelten Ecken und Nischen. Ebenfalls dem Nachhall förderlich sind die Mosaikwände aus Glassteinchen, mit denen der ganze Dom verkleidet ist. Die geschätzte Nachhallzeit in San Marco beträgt denn auch ca. acht Sekunden, könnte aber auch zehn bis elf Sekunden betragen (leider überlagert das ständige Gemurmel der Touristen nach etwa acht Sekunden den Meßton, so daß der Rest Spekulation bleibt).

Eine derart lange Nachhallzeit hat Auswirkungen auf die Musik, die in dieser Kirche gespielt werden kann. Blaukopf prägt den Begriff der "Modulationsgeschwindigkeit" (den ich ergänzen würde zur "harmonischen Modulationsgeschwindigkeit") und meint damit ein Phänomen, das den Musikern an großen Kirchen im allgemeinen geläufig ist: Je länger der Akkordnachhall im Raum zu hören ist, umso weniger sind schnelle Melodiefolgen oder schnelle harmonische Wechsel möglich. Ablösungen zwischen (modern gedacht) einer Tonika oder Dominante brauchen mindestens die halbe Nachhallzeit, damit der neu einsetzende Akkord als neuer Akkord wahrgenommen werden kann - also müßte heute eine Fermate in einer Kirche mit acht Sekunden Nachhallzeit eben diese vier Sekunden abgewartet werden, bis der alte Akkord verklungen ist. Eine Ablösung zwischen zwei Chören muß daher entweder auskomponiert werden (z.B. durch eine Generalpause oder Fermate) oder das vom Komponisten gedachte Zeitmaß muß an die akustischen Gegebenheiten angepaßt werden.

Begünstigt wird an einer Kirche wie San Marco vorwiegend eine block- oder flächenhaft komponierte Musik, kontrapunktische Feinheiten eines etwa siebestimmgen Satzes verschwimmen - es sei denn, das Tempo wird drastisch reduziert. Problematisch wird die Realisierung mehrchöriger Musik, wenn die Chöre in unterschiedlochem Frequenzbereich liegen, wie es bei einem "coro superior" und "coro grave" der Fall ist. Schnelle Sechzehntel der hohen Streicher oder Bläser mögen noch irgendwie wahrzunehmen sein, die gleiche Partie eine oder gar zwei Oktaven tiefer wird nur noch undifferenzierte unsaubere Klänge produzieren, weil die Töne verschwimmen, ehe sie sich entfalten können. Der tiefe Posaunen- oder Violonenchor hat in dieser Kirche eine viel größere Tragweite, entsprechend setzt sich ein hoher Zink oder eine hohe Violine bereits in geringer Lautsärke durch. Insbesondere der Gebrauch von extremen Dynamikunterschieden wird bei diesen langen Nachhallzeiten begünstigt, hinzu kommen die klanglichen Unterschiede durch eine unterschiedliche räumliche Position der Chöre.

Ideal ist es, wenn in den ausklingenden Akkord des einen Chores der gleiche Akkord des anderen Chores aufgenommen wird, gut ist es, wenn harmoniefremde Töne sich als langsame Töne einführen können, schlecht ist es, wenn unterschiedliche Akkorde aufeinander prallen. Näheres zur Aufführungspaxis mögen die Analysen der Werke bringen.

4.1."Miserere mei",1587
4.2."Deus, Deus meus",1587
4.3."Canzon 7° Toni Nr. 1" 1597
4.4."Canzon 4° Toni", 1597
4.5."Misericordias Domini",1597
4.6."Kyrie", 1597/1615


Nachtrag am 25.12.2011: Die "Frankfurter Allgemeine Sonntags-Zeitung" schreibt in ihrer heutigen Ausgabe über die Akustiksimulationen am Computer (S. 51), daß die Akustik in San Marco nach neueren Forschungen trockener gewesen sein könnte als bislang angenommen, weil "üppige Teppiche" und Massen von Zuschauern die Nachhallzeiten erheblich reduzierten und die Akustik der Kirche damit "so durchlässig wie die eines modernen Konzertsaals gewesen" sei. Die heutige Akustik in San Marco wird zwar durch Schutzteppiche über den Bodenmosaiken und Massen von Besuchern immer noch gedämpft, aber Konzertsaalakustik habe ich dort noch nie feststellen können (20 ms Nachhallzeit). Immerhin aber ein sehr interessanter Artikel und einen Link zu den Computersimulationen gibt es auch:
https://files.nyu.edu/bbb259/public/braxtonboren/sanmarco.html#sanmarcoAnchor

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 Literatur:
 Blaukopf, Kurt: Musik im Wandel der Gesellschaft, Piper, München 1982