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Spätrenaissance - Venedig - Kirchenmusik an San MArco


Spätrenaissance

Venezianische Musik

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Biographie G, Gabrielis

Kompositionslehre Gabrielis
1. Hintergründe

1.1. Die Bedeutung Venedigs in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht
1.2. Die Basilika San Marco
1.3. Chor und Orchester an San Marco
1.4. Krchenmusiker an San Marco

2. Theorie
3. Aufführungspraxis
4. Beispiele
5. Zusammenfassung
6. Literatur

1.3. Chor und Orchester an San Marco
Kirchenmusiker an San Marco
aus: Kompositionstechnik und Aufführungspraxis mehrchöriger Werke der venetianischen Spätrenaissance -
dargestellt am Beispiel Giovanni Gabrielis in San Marco/Venedig. Überarbeitete Staatsarbeit von Martin Schlu, Bonn 1984/2008

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Seit Willaerts Amtszeit ab 1527, spätestens jedoch seit Zarlino (seit 1565) ist ein Kirchenorchester an San Marco nachweisbar. Dessen Leitung oblag dem "Maestro di capella", zunächst als Ergänzung des Chores. Später wurde der Posten des "Maestro di strumenti" geschaffen, der jedoch dem "maestro di capella" untergeordnet war. Ab 1550 zählte das Orchester zum eigenständigen Bestandteil des kirchenmusikalischen Lebens.
 
Der Chor von San Marco hatte um die Mitte des 16. Jahrhunderts mindestens 40 festangestellte Sänger (Winter, 44f), jedoch ging diese Zahl bis 1597, dem Erscheinungsjahr der "Sacrae Symphoniae" auf nur noch 17 Sänger zurück: drei Sopranisten, fünf Altisten, fünf Tenöre und vier Bässe. Die Sopran- und Altstimmen wurden, der Zeit entsprechend, durch Kastraten besetzt. Chorist an San Marco zu sein war eine Lebensstellung und sorgte für eine gewisse Berühmtheit - der Satz "E un cantor di San Marco" wurde ein Synonym für äußerste Tüchtigkeit und noch im 17. Jahrhundert begannen viele bedeutende Opernsänger ihre Karriere als Chorsänger an San Marco (Emans, 47f).
 
Dieser Stammchor von Berufssängern, die "capella", stellte, wenn erforderlich, auch die Solisten. Diese hatten ggf. als "coro favoriti" den ersten Choreinsatz zu übernehmen, wenn dies nicht instrumental geschah. Reichten bei größer besetzten Werken die Chorgruppen der "capella" und der "favoriti" nicht aus, wurde ein dritter Komplementchor, der "coro ripieno" gebildet, der bei den Tutti-Passagen verstärkend wirkte. Dieser Chor konnte mit schlechteren Sängern besetzt erden, gewöhnlich nahm man dafür Kleriker von San Rocco, der zweiten großen Stadtkirche Venedigs. Diese "capella" -"ripieno" - Gegenüberstellung ist allgemein stilbildend geworden, noch in Bachs doppelchörigen Motetten findet eine Unterteilung in "Concertisten" und "Ripienisten" statt.
 
Das Klanggewicht zwischen "favoriti", "capella" und "ripieni" war offensichtlich nicht so leicht zu erreichen. Einerseits wurden die stimmstärksten Sänger als "favoriti" verpflichtet (und mit 100 Dukaten im Jahr bezahlt, gegenüber den 50 Dukaten der "capella"-Sänger und den 15 Dukaten der Instrumentalisten), andererseits mußte die "capella" oft instrumental gestützt werden um klanglich zu dominieren und die "ripieni" sollten eine nochmalige klangliche Steigerung bewirken. Weil diese aber keine ausgebildeten Stimmen hatten, mußte ihre Anzahl entsprechend höher ausfallen, was wiederum auf Kosten der dynamischen Beweglichkeit ging. Es ging also um das Problem zwischen Klanggewicht der "ripieni" , der "favoriti" und dem Orchester und die damit verbundenen Probleme in bezug auf Intonation, Sprachlichkeit und Dynamik. Oft mußten die "favoriti" lediglich mit einer Orgel/einem Positiv oder, bei transponierten Tonarten (vgl. Kap. 3.2.) mit einer Chittarone auskommen, während es üblich war, die "ripieni" in den Mittelstimmen noch instrumental zu verstärken.
 
Unter Willaert wurden die Instrumentalisten für einzelne Kirchenfeste engagiert und bezahlt. Seit der Amtszeit Zarlinos wurde das - inzwischen institutionalisierte - Orchester zu einem festen Bestandteil der Kirchenmusik und bot eine willkommene Möglichkeit für die Hauskomponisten, an San Marco ihre Kompositionen auszuprobieren. Bis zur ersten Amtsübernahme eines "maestro di strumenti" (Kapellmeisters) oblag die Leitung der einzelnen Ensembles (wie heute noch in den meisten Kirchen) wahrscheinlich dem "maestro di capella" (Chordirektor) oder dem Organisten - jedoch existieren für diese Annahme keine Quellen. Haas (ebd. S. 17f) beschreibt das Orchester - leider ohne Zeitangabe - mit acht Violinen, elf Viola da braccia (heute wären es Bratschen), zwei Viola da Gamba, drei Violen, zwei Zinken, einem Fagott, drei Posaunen und vier Theorben (für Continuo-Aufgaben) . Mit modernen Instrumenten wäre das ungefähr eine Besetzung, die für eine Beethoven-Symphonie reichen würde, um eine Größenvorstellung des Klangvolumens zu geben.
 
Jedoch gilt diese Besetzung mit Sicherheit nicht für Gabrielis Amtszeit, weil in seiner Amtszeit der Chor für einen solchen Orchesterapperat viel zu klein gewesen ist. Angesichts der schlechten Quellenlage für den Zeitraum von 1580 - 1613 vermute ich eher eine Festanstellung nur der Bläser, allen voran die Posaunisten, weil die auf Tonarten keine Rücksicht zu nehmen brauchten und ein Maximum an Variabilität aufwiesen. Baßposaunen in F konnten allertiefste Töne blasen, die Tenorposaunisten konnten bequem die Baß- bis Altlage abdecken, die Diskantposaunen kamen noch eine Oktave höher und konnten bis a'' oder b'' spielen. Außerdem verschmolzen diese Instrumente fast perfekt mit der menschlichen Stimme und fielen als Chorstütze deshalb kaum auf - Einspielungen alter Musik mit engmensurierten Posaunen belegen diesen Umstand sehr eindrucksvoll. Der Wechsel auf unterschiedliche Orgelstimmungen (es gab ja noch keinen standardisierten "Kammerton", konnte durch unterschiedliche Stimmbögen der Posaunen mühelos überbrückt werden und harmonische Korrekturen waren gerade bei Posaunen immer möglich. Posaunisten wissen, daß die Positionen der Lagen sich zur Tiefe hin ausdehnen.
 
Ob die Hoftrompeter auf ihren Naturinstrumenten auch zum Kirchendienst herangezogen wurden, ist nicht gesichert, sie hätten die Partien aber mit ihren Instrumenten spielen können. Die - heute wieder gebräuchlichen - Naturtrompeten konnten ab dem sechsten Oberton sauber eingesetzt werden, weil man Intonationsunreinheiten durch Korrekturöcher ausgleichen konnte. Die "Canon 1° toni á 8" ist ein Musterbeispiel für die Verwendung einer Naturtrompete mit Korrekturloch in der Grundstimmung "F".
 
Die Korrektur läge beim e'' und dem cis'' , die in der Naturtonreihe nicht sauber klingen
 
Genaue Aussagen über die Zusammensetzung des Orchesters zu Gabrielis Zeiten sind nicht möglich. Unter Berücksichtigung der im Anhang angegebenen Schlüsselungsbeispiele, in denen oft genug ein "coro grave" gefordert wird (ein tiefer, durch Posaunen verstärkter Chor), erscheint hier ein Ensemble von sechs Posaunisten und zwei Naturtrompetern der Hofkapelle am wahrscheinlichsten. Begründen läßt sich dies mit der Häufigkeit der achtstimmigen Werke, in dieses Ensemble optimal eingesetzt werden kann. Als Ergänzung kann man eine Anzahl Streicher annehmen (Viola, Viola da Braccia, Viola da Gamba, Violone) und als transportables Continuo eine Chittarone. , die aber nicht so häufig Dienst hatten wie die Sänger (Emans, S. 49) und eventuell nur für den Anlaß engagiert und bezahlt werden - ähnlich wie es bei Posaunisten heute noch gang und gäbe ist. Schlüsselungsbeispiele
 
Ebenfalls überliefert ist, daß bereits 1557 fünf Bläser (Posaunen?) fest angestellt waren - allerdings berichtet Emans (S. 58) auch von einem "Orchester" aus zwei "Kornettisten" und zwei Posaunisten, das 1601 bis 1617 unter Giovanni Bassano fest angestellt war. Alle anderen Musiker wurden danach gesondert eingestellt.
(cornetto = Zink, doch "Kornettist" kann auch ein hoher Instrumentalist sein).
 
 Legt man Emans Aussage zugrunde, kann man schon nicht mehr von einem "Orchester" reden, sondern nur noch von einer Handvoll festangesteller Musiker, eher einem Kammerensemble, dessen Zahl erheblich geschwankt hat und erst in Claudio Monteverdis Amtszeit aufgestockt wurde. Ein Einfluß der Orchesterbesetzung auf Gabrielis Kompositionen scheint daher nicht vorzuliegen, denn Gabrieli konnte sich die Musiker einkaufen, die er benötigte und mußte damit keine Rücksicht auf Besetzungen nehmen - ähnlich dem Kantor in einer kleinen Gemeinde, der alle paar Jahre ein großes Chor- und Orchesterwerk einprobt und sich die Verstärkung aus dem nächsten städtischen Orchester besorgt. Ein Kompositionseinfluß wird daher nicht von der Besetzung vorgegeben, sondern alleine vom Raum, in dem die Musik aufgeführt wurde - genau so ist es heute noch in der Kirchenmusikpraxis der großen Dome und Kathedralen. 
 
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