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1.2. Die Basilika San Marco

aus: Kompositionstechnik und Aufführungspraxis mehrchöriger Werke der venetianischen Spätrenaissance -
dargestellt am Beispiel Giovanni Gabrielis in San Marco/Venedig. Überarbeitete Staatsarbeit von Martin Schlu, Bonn 1984/2017

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Der erste Bau der Kirche geht auf das Jahr 828 zurück, als der Doge Giustigniano Partecipazio dringend eine angemessene Privatkapelle benötigte, um die aus Gründen der Staatsräson geraubten (und unter Schweinespeck versteckt außer Landes gebrachten) Gebeine des heiligen Markus vernünftig unterbringen zu können. Man versprach sich von der Reliquie ein einträgliches Pilgergeschäft und einen Status vergleichbar Roms (die hatten den heiligen Petrus) oder der Amalfi-Küste/Neapel (die hatten den heiligen Andreas) - es mußte schon ein wichtiger Heiliger sein.
 
Unglücklicherweise verschwand die Reliquie 976, als bei einem Aufstand gegen den Dogen Pietro Candiano IV. nicht nur dessen Privatpalast, sondern auch seine Hauskapelle San Marco in Brand gesteckt wurde und dabei leider auch Venedig zur Hälfte abbrannte. Über die Gebeine des heiligen Markus wurde aber verkündet, sie seien feuersicher eingemauert gewesen und es gäbe sie noch - schließlich wollte man sich die Pilgerei und die dabei entstehenden Einnahmen nicht verderben.
 
Hauptintrigant gegen Pietro Candiano IV. war sein Sohn Pietro Orseolo, der beim Wiederaufbau des bis auf die Grundmauern abgebrannten Domes einen anderen Geschmack als sein abgesetzter Vater bewies und der Kirche einen basilikalen Grundriß mit griechischen Einflüssen geben ließ. Seine beiden Nachfolger konnten zwar den Grundriß nicht mehr ändern, entschieden sich aber für einen eher byzantinischen Stil; der erste, weil er ein großer Bewunderer der Hagia Sophia geworden war und auch gerne etwas Vergleichbares als Kapelle haben wollte, der nächste Doge, weil er die Tochter des Kaisers von Byzanz geheiratet hatte, deswegen auf byzantinische Baumeister zurückgreifen konnte und dies auch ausgiebig tat. Aus diesen Zusammenhängen erklärt sich der architektonische Bastard einer byzantinischen Kreuzkuppelbasilika, der in San Marco vorliegt - ein Mischmasch absolut unterschiedlicher Baugeschmäcker.

Kreuzkuppeln von San Marco
oben:
Die Kreuzkuppeln von San Marco. Man erkennt deutlich die Kreuzform der Dächer vor dem - später dazu gebauten - Campanile

unten:
Der Aachener Dom - erst ein romanischer Zweckbau für Messe, Krönung, Taufe, der später die gotischen Chorräume dazu bekam.
(Fotos: Martin Schlu, 2015/2017)
Der Aachener Dom - ein romanischer Zweckbau

Während der zur gleichen Zeit entstandene Aachener Dom ein fast rein romanischer Zweckbau ist (dicke Mauern und kleine Fenster, damit das Böse nicht in die Kirche kommt), ist San Marco einerseits katholischer Zweckbau, funktioniert aber auch als Kathedrale und taugt für staatstragende Messen, bei denen Pracht vor Demut geht. Gleichzeitig ist die Inneneinrichtung ein einzigartiges Kuriosum, denn weil seit dem 13. Jahrhundert alle in Venedig anlegenden ausländischen Seefahrer zur Zahlung einer Hafengebühr in Kunstschätzen verpflichtet wurden, findet sich nahezu aus jedem Stil und nahezu jeder Kultur irgendein Ausstellungsstück. Hinzu kommt, daß die Kreuzzüge reichlich Gewinn und Beute abwarfen, die sich ebenfalls in der Innenausstattung der Kirche spiegelt. Diese venezianische Art der Kunstbeschaffung muß regelrechte Tradition geworden sein, denn im Baedeker des letzten Jahrhunderts wird lobend erwähnt, daß es immerhin eine Reliquie gibt, die gekauft und nicht gestohlen wurde - auch wenn über die Herkunft des Geldes nichts gesagt wird.
 
Schon nach knapp dreißig Jahren, 1094, war die neue Kapelle fertig und rein zufällig wurden kurz vor der Einweihung die heiligen Knochen Markus' wiedergefunden.
 
 
 
Basilika San Marco und Palazzio Duccale, Gemälde von Giovanni Antonio Canal ("Canaletto", 1697 - 1768),
Detailausschnitt Foto: Martin Schlu 1985
 
Der Doge von Venedig hatte durchaus eine geistliche Funktion und war nicht nur repräsentatives Staatsoberhaupt. Er war berechtigt die Messe zu lesen und Pfründe zu vergeben. Nur ist aufgrund der venezianischen Staatsstruktur zu vermuten, daß eine christliche Nutzung der Basilika eher nebenbei geschah und staatliche Belange wie z.B. Festmessen mehr eine Demonstration der weltlichen als der kirchlichen Macht dienten.
 
Die Repräsentation geschah unter anderem durch eine gute und teure Kirchenmusik und die Kirchenmusiker wurden unverhältnismäßig hoch bezahlt: 400 Dukaten (ca 35 g Gold pro Dukat) oder 1100 Gulden und freie Wohnung bezog der "Maestro di capella"(Chordirektor). Er mußte hauptsächlich lehren, weil San Marco mittlerweile eine berühmte Kirchenmusikschule geworden war, einer heutigen Musikhochschule vergleichbar (wenn die Professoren auch damals besser besoldet wurden). Giuseffe Zarlino (ab 1565) und Baldessaro Donato (ab 1590) sind mehr als Theoretiker bekannt, Adrian Willaert (ab 1527) mehr als Komponist. Wahrscheinlich hatten sie mehr die künstlerische Gesamtverantwortung - vergleichbar einem Intendanten. 
(Nachtrag 2005 : Ob es heute noch Kirchenorchester und Kirchenchor gibt, war bei einem Besuch in Venedig nicht zu klären. Informationen über Kirchenmusik hingen nicht aus und waren nicht zu bekommen, auch wenn mehrere Gondolieri behaupteten, es gäbe da etwas... Überhaupt entspricht die kirchliche Nutzung der Kirche eher einer rheinischen Kleinstadtkirche - für die Zeit von Gründonnerstag bis Ostersonntag waren ganze vier Messen angesetzt, undenkbar für katholische Hochburgen wie Köln oder Trier. Dafür war die Schlange der Einlaß begehrenden Touristen am Mittwoch vor Gründonnerstag knapp 100 m lang und die Hochsaison hatte noch nicht eingesetzt... MS) - Link: Venedig: Reiseberichtt für Erstbesucher
 
 Fassade San Marco vom Markusplatz aus
Bild: San Marco vom Markusplatz aus gesehen, Foto: © Martin Schlu 2017 
 
200 Dukaten oder 550 Gulden und ebenfalls freie Wohnung bekamen die beiden "Organisti" und die "Maestro di strumenti"(Kapellmeister). Die Organisten hatten Chorproben zu begleiten und die Messen zu spielen, die Kapellmeister mußten die Orchester leiten - eine Aufteilung, wie sie z.B. im Kölner Dom heute noch vorhanden ist. Wie hoch die Bezahlung war, zeigt ein Vergleich mit dem Gehalt des Kapellmeisters am Hofe Rudolfs II. in Prag, der "nur" 360 Gulden und einen Bonus von 120 Gulden bezog.
 
Das Instrumentarium der Kirche umfaßte eine große Hauptorgel (1588 neu erbaut) und eine geringer disponierte kleine Orgel. Diese Orgeln werden sich aus praktischen Gründen gegenüber dem Priester auf den Nordostemporen links und rechts vom Hauptaltar hinter der Chorschranke befunden haben, so daß die Organisten sich gegenüber saßen und verständigen konnten (Heute gibt es nur eine große Orgel rechts über dem Altar). Es ist allerdings überliefert, daß in San Marco zeitweilig vier Organisten eine Lebensstellung hatten und auch auf vier Orgeln musiziert wurde. Bei der dritten und vierten Orgel wird es sich meiner Meinung aber um tragbare kleine Positive gehandelt haben, die (nicht nur) in Venedig sehr verbreitet waren.

Eine der Besonderheiten in San Marco sind die vielen Mosaiken (byzantinischer Stil), die fast an allen Wände und Decken angebracht sind. Um sie ausbessern zu können und um Kerzen zu positionieren, ist der Innenraum von zahllosen Wartungsgängen, sogenannten "Katzenstegen" durchzogen. Dies sind begehbare Verbindungen zwischen Kuppeln, Figurengruppen oder Säulengruppen, die in San Marco reichlich vorhanden sind (es soll angeblich über 3000 Säulen in der Basilika geben, ich habe sie aber nicht gezählt).
 
Bild: Innenraum von San Marco von der Westempore aus gesehen
Foto: © JoachimSchlu, 1984
 
Weitere Umgänge befinden sich am unteren Umfang der Kuppeln und bei den Verbindungen vom Hauptschiff zu den Seitenschiffen. Dies wird später (Kap. 3.2. "Aufstellung der Chöre") wichtig, weil es Rückschlüsse darauf zuläßt, wie viele Musiker sich auf diesen Umgängen aufhalten und spielen konnten, wenn man berücksichtigt, daß sie Bewegungsspielraum und einen Notenständer, ggf. bei Gambisten noch einen Hocker brauchten - die Anzahl der Musiker, die gleichzeitig auf einem Katzensteg spielen konnten, war begrenzt und Sichtkontakt mußte auch noch möglich sein.
 

Abbildungen: Wartungsgänge bzw. Katzenstege in San Marco
Fotos: © Joachim Schlu, 1984

 
Die Breite dieser Katzenstege betrug höchstens einen Meter, was bedeutet, daß die Musiker nur nebeneinander singen oder spielen konnten. Wer einmal in einer großen Kirche mit Instrument unter dem Dach herumgeklettert ist, wird verstehen, was es bedeutet, mehrere Gruppen von Musikern zu koordinieren - Sichtkontakt ist hier alles.
 
Nachtrag (2005) : Mittlerweile darf man in der Kirche überhaupt nicht mehr fotographieren, ich konnte die Katzenstege aber zumindest in Augenschein nehmen. Sie haben eine Tiefe zwischen 60 und 80 cm und eine Breite von ca vier bis acht Metern, so daß mehrere Musiker bequem nebeneinander stehen können. Die Stege durchziehen den gesamten Kirchenraum in ca. dreizehn Meter Höhe und mit entsprechend vielen Subdirigenten könnte man nahezu beliebig viele Musiker unterbringen - es gibt heute sogar einen Lift.
 
 Ebenfalls ins Auge fällt die reiche Ausstattung der Basilika mit Marmor. Dieser Marmor wurde nicht nur aus Carrara hergeschafft, sondern aus allen möglichen Orten auch außerhalb Italiens. Damit konnte noch einmal die Macht des Dogen demonstriert werden, dem für die Ausschmückung seiner Kirche nichts zu teuer war.
 
Mosaiken
 Bild: Mosaiken an der Decke San Marcos
Foto © Joachim Schlu, 1984
 
Darüberhinaus sorgt die Verwendung dieser Marmormassen für ein spezielles Problem der Akustik: Der Schall bricht sich mehrfach, wird in bestimmten Frequenzen verstärkt, in anderen (Bässen) laufen sich die Schallwellen tot, Resonanzfrequenzen im Stimmspektrumsbereich sorgen dafür, daß z .B. Tenorpartien sehr laut zu hören sind, Nachhallzeiten von acht bis zu sechzehn Sekunden sorgen dafür, daß nur bestimmte Akkordwechsel differenziert zu hören sind usw. - kurz: die Akustik der Kirche läßt nur eine bestimmte Art der Musik zu. Es besteht ein großer Einfluß der Architektur auf die Musik an San Marco: Die Häufung von Emporen und Stegen reizt zum Einbeziehen der Raumes in die Musik. Natürlich wird jeder Kantor einmal ausprobieren, wie es klingt, eine Gruppe aus größerer Höhe spielen zu lassen, doch die Nachhallzeit einer Kathedrale (z.B. elf Sekunden im Schweriner Dom oder in St. Marien, Stralsund) verträgt sich nicht mit einer Musik, die für einen trockenen Konzertraum (ca. 0,2 - 0,8 sec.) geschrieben wurde. Schnelle Figuren der Streicher im Allegro-Tempo sind nicht möglich, weil die Töne verschwimmen, langgezogene Bläserakkorde klingen dagegen optimal und Staccato-Figuren mit Pausen spielen gerade mit dem Nachhall und dem Echo.
 
Nachhallzeiten über fünf Sekunden erschweren außerdem harmonische Wechsel (harmonische Modulation), weil die Akkorde verschwimmen, wenn die Akkorde zu schnell aufeinander folgen. Aus diesem Grund klingt das imitatorische Motiv einer venezianischen "Canzone" immer besser, weil man in dieser Akustik besser linear-melodisch hört als vertikal-akkordisch. Einen weiteren Einfluß übt die Raumgeometrie aus: rechteckige Räume neigen zu stärkeren Hallzeiten, als runde Räume, flache Decken absorbieren den Schall eher als Kuppeln und die Größe eines Raumes wiederum ist entscheidend für die Atmosphäre und das Klima, das sich in ihm bildet - all dies sind Faktoren, die die Aufführungspraxis eines Raumes entscheidend prägen und es wird festzustellen sein, inwieweit ein an einer bestimmten Kirche angestellter Musiker seine Kompositionen an den Raum anpaßt und die Komposition damit der Aufführungspraxis unterwirft.
 
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