Venezianische Geschichte ab
ca. 1600
Texte und Fotos von Martin Schlu 2002/2022
- Gabrieli
in Venedig - Stadtteil San Marco
-
- Zu Beginn des 17.
Jahrhunderts war Venedig zwar schon im
wirtschaftlichen Abstieg begriffen, allerdings
immer noch das kulturelle Zentrum und der
kulturelle Motor für ganz Europa. Musiker aus
ganz Europa kamen hierhin und suchten Inspiration
oder die Ausbildung bei berühmten
Künstlern wie Gabrieli
oder Tizian
. Italienische Musiker waren die Stars an den
Hofkapellen und später in den Opern und wurden
überall wesentlich höher bezahlt als die
heimischen Künstler - diese wiederum konnten
hoffen, mehr zu verdienen, wenn sie eine Ausbildung
in Venedig vorweisen konnten, wie z.B.
Heinrich
Schütz bei
Gabrieli
und Monteverdi.
-
- Damit entwickelte sich eine
Strömung, die schon ab ca. 1570 eingesetzt
hatte und die bis dahin musikalisch führenden
"Niederländer" (z.B. Palestrina oder Willaert)
aus ihren Vorbildfunktionen verdrängte. Nicht
mehr der niederländische Stil mit seiner
horizontal verflochtenen Polyphonie war nun
gefragt, sondern die vertikalen Akkordblöcke
korrespondierender Chöre der "coro
spezzati". Der Glanz
Venedigs sollte stilbildend werden für
mehrchörige Motetten bis noch zu Bachs Zeit (
z.B. die Motette "Komm, Jesu, komm" oder die
Matthäuspassion).
Deutlich wurde dies zuerst in den Nachbarstaaten
Venedigs: 1596 gründete der Erzherzog
Ferdinand in Craz seine Hofkapelle neu und besetzte
sie ausschließlich mit italienischen
Sängern, Instrumentalisten, einem
italienischen "maestro di capella" (Kapellmeister)
und er stellte einen italienischen Komponisten ein.
1619 wurde Ferdinand nach dem Tode des alten Kaiser
Matthias zu seinem Nachfolger in Wien ernannt und
mußte fortan dort leben. Die Hofkapelle nahm
er mit und baute sie als nunmehr kaiserliche
Hofkapelle aus. Sie wurde in der Folgezeit geleitet
von Giovanni Priuli, einem Gabrieli-Schüler,
Giovanni Valentini (Hofkapellmeister v. 1629-1649),
ebenfalls ein Gabrieli-Schüler sowie Antonio
Bertali (Hofkapellmeister v. 1649-1669). Die nach
Gabrielis Tod 1612 gefundenen frühbarocken
Sonaten und Canzonen waren 1615 unter dem Titel
"Canzoni e Sonate" posthum veröffentlicht
worden und galten lange Jahre als
Pflichtlektüre für Komponisten, die 1597
erschienene Sammlung "Symphoniae Sacrae" war es
sowieso und noch Heinrich Schütz widmete
seinem Lehrer Gabrieli eine groß besetzte
Sammlung mit dem Titel "Sacrae Symphoniae", nachdem
er Karriere bei Christian IV. von Dänemark
gemacht hatt, aber wieder ins Kirchenfach
gewechselt war. Gerade bei Schütz sieht man
übrigens, wie er venezianisch anfängt und
- als alter Mann gegen Ende des 30-jährigen
Krieges puristisch-minimalistisch komponiert, weil
der größte Teil von Chor und Orchester
im Krieg umgekommen sind (aber
das ist eine eigene
Geschichte).
-
- Ebenfalls in Gabrielis
Tradition steht noch Giovanni Battista Buonamente,
als kaiserlicher Kammermusiker und Komponist in der
Wiener Hofkapelle, dessen Sonaten den Gabrieli-Stil
ziemlich getreu kopieren, wie auch Massimiliano
Neri, der - wie Gabrieli - zwölfstimmig
schreibt (zwei mal sechs und drei mal vier Stimmen
ergeben zwei- und dreichörige
Möglichkeiten), der seine Sonaten-Ausgabe
von 1651 Kaiser Ferdinand III. widmet und offenbar
als Gegenleistung von ihm geadelt wurde (eine
Tradition, die auch bei Beethoven noch hervorragend
funktionierte, als er 1800 Maria Theresia eine
Komposition widmete um ins kaiserliche
Musikgeschäft zu kommen). Weitere italienische
Musiker finden sich am Düsseldorfer Hof
(Biagio Marini) , am Bonner Hof (später
allerdings wieder eingespart, z.B. durch Beethoven
abgelöst, weil der billiger war) und in
München sind sie seit Orlando di Lasso sowieso
ständige Gäste.
-
- Das Interessante des
"venezianischen" Stils ist die Klangpracht der
verschiedenen Chorgruppen: hoher Chor gegen tiefen,
Streicher gegen Bläser, Posaunensatz mit
Zinken (Cornetti) gegen Fagotti, Violen und Oboen.
Am Ende der Spätrenaissance und zu Beginn des
Frühbarocks experimentieren die Kapellmeister
mit drei und vier Chören, der Höhepunkt
wird mit einer Komposition von Oracio Benvenoli zu
fünf Chören in 23 Stimmen erreicht.
Andere Komponisten schreiben - das ist neu -
ausdrücklich die Besetzung vor. Hat Gabrieli
erst 1612 in einer Sonate drei Cornetti und Violen
vorgeschrieben und den größten Teil der
allgemeinen Aufführungspraxis
überlassen, sieht es bei anderen Komponisten
schon wesentlich differenzierter aus: Monteverdi
benennt in seinem "L'Orfeo" von 1607 die
Instrumente schon relativ oft, Buonamente verlangt
1636 ausdrücklich Violine mit Laute (als
Generalbaß) gegenüber vierstimmigen
Bläsersatz (Zink und drei Posaunen) und
Bertali verlangt ausdrücklich zwei Violini mit
einer Posaune ("violini e trombone") -
verständlich nur, wenn man weiß,
daß die Renaissance-Posaunen durch ihre
engmensurierte Bauart und ihr kleines
Schallstück auch in hoher Lage extrem leise zu
spielen sind, eine Voraussetzung, die die modernen
Instrumente heute nicht mehr
erfüllen.
-
- Aus den Tutti-Bläsern
werden im Laufe der Jahre Virtuosen, für die
die Komponisten regelrechte Bravourstücke
schreiben und damit die Grundlage des Solokonzertes
legen. Monteverdis"L'Orfeo" hat exponierte Partien
für die Zinkenisten, Bertali schreibt virtuose
Trompetenpartien mit Orgel, Daniel Speer treibt die
Posaunisten mit seinen Läufen fast zur
Verzweiflung - man kann aufgrund der Kompositionen
sehen, wie gut die Instrumentalisten waren, die dem
Orchester zur Verfügung standen. Bekanntes
Beispiel aus dem Spätbarock ist der
Star-Trompeter Bachs, Gottfried Reiche, der
stilecht an einem Lungenriß starb, den er
sich beim Blasen in den höchsten
Obertönen zugezogen hatte und dessen
Kompositionen bei Naturtrompetern auch heute noch
gefürchtet sind.
oben: Venedig, Ansicht vom Canal Grande mit dem Campanile
bei San Marco (2009)
- unten: Venedig, Ansicht des Palazzo Ducale vom Wasser her, Canaletto, vor 1742 (Original im Castello Sforza, Mailand)
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Nach
Auflösung der großen Kirchenorchester an San Rocco und San Marco und
nach dem Abstieg der Serenissima entstehen die privaten Orchester -
allerdings auf Streicherbasis. Die Bläsertraditionen werden ab ca. 1650 unmodern und gehen zugunsten der Streicher unter
und seit dem Spätbarock beherrschen andere
Namen die venezianische Szene. Einer der bekanntesten venezianischen
Violinstars wird Antonio Vivaldi, doch seinen Lebensabend verbringt er
in Wien, er stirbt dort und er wird auch dort begraben. Sein Grab
ist aber nicht mehr zu finden, denn an dieser Stelle - in Nachbarschaft
zur
Karlskirche - wurde die Naturwissenschaftliche Fakultät der Wiener Uni
gebaut. Vivaldi war offensichtlich nicht mehr bekannt genug um den
Fortbestand seines Grabes zu rechtfertigen.
- Wenn man heute nach Venedig kommt, stolpert man bei
jedem zweiten Plakat über ein professionelles Ensemble ("Interpreti
Veneziani"), die ein vermeintlich venezianisches Programm jeden Abend
spielen - für die Touristen taugt es zwar noch, doch die wichtige
venezianische Musik des 16. und 17. Jahrhunderts wird heute woanders
gespielt und eine traditionelle Kirchenmusik findet nicht mehr statt.
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