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 Spätrenaissance - Entwicklung der Mehrchörigkeit


Spätrenaissance

Venezianische Musik

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Biographie G, Gabrielis

Kompositionslehre Gabrielis
1. Hintergründe
2. Theorie
Die Tonartenlehre

Der Tonartencharakter und die Affektenlehre bei Gabrieli

Die Intervallehre des 16. Jahrhunderts

Stimmunfänge, Tonhöhen,

Transpositionsanweisungen und Schlüsselung

Die Entwicklung der "cori spezzati" - Technik

Andrea und Giovanni Gabrieli und ihr Verhältnis zu Orlando di Lasso

3. Aufführungspraxis
4. Beispiele
5. Zusammenfassung
6. Literatur

2.4 Die Entwicklung
der "cori spezzati"-Technik
aus: Kompositionstechnik und Aufführungspraxis mehrchöriger Werke der venetianischen Spätrenaissance -
dargestellt am Beispiel Giovanni Gabrielis in San Marco/Venedig. Überarbeitete Staatsarbeit von Martin Schlu, Bonn 1984/2011

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(S. 41 ) Respondierender Chorgesang war innerhalb der christlichen Liturgie schon immer ein tragendes Element. Die antiphonale, einstimmige Choralpraxis enthielt bereits wesentliche Elemente der späteren Mehrchörigkeit: korrespondierendes Singen bei getrennter Aufstellung, Wechsel gegensätzlicher Klangfarben und Streben nach einem ausgewogenen Gesamtklang. Paul Winter zitiert eine Chronik der 816 gegründeten Benediktinerabtei Corvey (Weser) von 1590, nach der der auf drei Emporen verteilte Psalmengesang eine sehr lange Tradition haben soll:
 
"... und zu dero behuff hat man alda drei unterschiedliche Chor gehalten, als Supremum, Infimum und Angelicum.... Wann die Chorherren in Supremo Choro wie jetzund noch im Gebrauche ist, einen Psalmen, Hymnum, Responsorium, Introitum und Kyrie gesungen, so hat Angelicus Chorus in der Höhe nach Niedergang der Sonnen das Gloria mit heller Stimm ... ... fein langsam singen müssen... ... Sobald nun die Chorherren in Supremo Choro ihre Zeit und Stunde gesungen, alsbald haben andere in Infimo Choro in der Creutzkluft wieder angefangen, und hinter denen hat Angelicus Chorus in Supremo Choro hinter Stz. veiths Altar das Gloris singen müssen..."
(Quelle: Winter, Paul: Der mehrchörige Stil, Peters, Frankfurt 1964)
 
Hier ist noch nicht unbedingt die Rede von einer echten Mehrchörigkeit, sondern eher von einer erweiterten Praxis des antiphonalen-responsorischen Wechselgesangs.
 
Eine weitere Entwicklung beginnt mit der Hinzunahme einer "Chororgel", die anfangs als tragbares Positiv zunächst den Chorgesang stützte, später (ca. 1450) aber mit der "großen" Orgel am anderen Ende der Kirche korrespondierte. Während die Chororgel geringer disponiert war, um den Chor nicht akustisch zu übertönen, entwickelte sich die Hauptorgel in der Regel zum Träger des Gemeindegesangs und später zum Konzertinstrument mit entsprechend differenzierter Registratur.
 
Eine Weiterentwicklung liegt in der Praxis vieler Komponisten, einen vierstimmigen oder fünfstimmigen Satz im Verlauf der Komposition zeitweilig zu teilen, so daß hohe Stimmen den tiefen Stimmen gegenüber gestellt wurden. Diese Halbchörigkeit findet sich bei vielen Komponisten der Frührenaissance, z.B. Josquin des Prez, Ludwig Senfl, Caspar Othmayr und anderen.
 
(S. 42 ) Wann es nun zu einer Mehrchörigkeit gekommen ist, läßt sich nicht ganz sicher bestimmen. Erich Hertzmann (Zur Frage der Mehrchörigkeit in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: ZfMw, 12. Jg., 10/1929 - 9/1930, S. 138-147) vermutet die "korrespondierende" (vgl. respondere, co-respondere) Komposition zweier Stimmpaare bei Ockeghem (ds. ZfMw 1929/30, S 138), gibt aber leider keinen Beleg dafür an. Ein Schüler Ockeghems, Josquin des Prez, übernimmt nach Hertzmann jedoch die Ockeghemsche "Verhakelungstechnik" (Hertzmann) und wendet sie in seiner Motette "Lugebat David" an (T. 60f)
 
Notenbeispiel Josquin: Lugebat David, T 60f
 
Nach Paul Winter (a.a.O., S. 9f)  schreibt der Domkapellmeister zu Padua, Frater Ruffino d' Assisi, in seiner Amtszeit 1510 - 1520 acht achtstimmige Psalmen "a coro spezzato". Real erklingt dabei zwar immer nur ein Chor, jedoch wechseln sich die Chöre gleichmäßig ab.
 
Genau diese Technik bringt Adrian Willaert später den Ruf ein, durch seine "Salmi spezzati" (1550) die Mehrchörigkeit "erfunden" (Zarlino) zu haben. Neu ist bei Willaert immerhin die Einteilung in einen "coro supremo" und einen "coro grave", also einen hohen und einen tiefen Chor.

Ein Schüler Josquins, Rousee, läßt nach Hertzmann (s. ZfMw) um 1553 als Erster zwei Chöre mit- und gegeneinander korrespondieren. Im gleichen Jahr erschent aber auch schon ein im italienischen Stil gehaltenes doppelchöriges Stück von Orlando di Lasso. Zu diesem Zeitpunkt ist die Mehrchörigkeit offensichtlich schon verbreitet, ihre Entwicklung liegt wahrscheinlich um 1520.

(S. 43 ) Mehrchörige Kompositionstechnik, wie sie später von Gabrieli perfektioniert wird, findet sich jedoch erst relativ spät. Auch wenn Josquin bereits achtstimmig komponiert, geschieht dies nie in einer Art Blocktechnik, sondern streng kontrapunktisch. Mehrchörigkeit ist mit Kontrapunktik nicht zu vereinbaren, denn einige Stimmen müssen dabei immer pausieren. Dies ist damit zu begründen, daß die Fähigkeit Stimmen im Satz zu unterscheiden, bei fünf bis sechs Stimmen aufhört. Ob ein Satz fünf- sechs- oder achtstimmg kontrapunktisch geführt ist, kann nornalerweise nicht mehr gehört werden. Siebn- und Achstimmigkeit implizieren bereits eine versteckte Halbchörigkeit. Echte Mehrchörigkeit wird dagegen als doppelte Komposition  aufgeführt, wobei kontrapunktische Regeln oft aufgegeben werden müssen, damit der Gesamtklang nicht überladen erscheint. Damit muß jeder Chor für sich einfacher angelegt sein, aber es muß eben auch einen Klangunterschied zwischen den Chören geben - ob räumlich getrennt oder ob durch die Trennung in einen tiefen oder hohen Chor, ist dabei egal.

Insofern ist eine cori-spezzati-Technik noch keine mehrchörige Kompositionstechnik, weil real immer nur ein Chor erklingt. Mehrchörig wird eine Komposition erst bei real durchgeführter Doppelchörigkeit zu 2 x 5 oder 2 x 5 ...etc. oder bei der Abgrenzung in einen  hohen oder tiefen Chor oder einen Instrumental- und einen Vokalchor. Mehrchörigkeit in diesem Sinne findet sich auch erst bei Andrea Gabrieli (Arnold, Mf 1959, S. 268)


Literatur:
Arnold, Denis: Andrea Gabrieli und die Entwicklung der "cori spezzati" - Technik, in: Die Musikforschung (im Folgenden zit als: MF), 12.- Jg. 1959, S. 258 - 274
Hertzmann, Erich: Zur Frage der Mehrchörigkeit in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: ZfMw, 12. Jg., 10/1929 - 9/1930, S. 138-147
Winter, Paul: Der mehrchörige Stil, Peters, Frankfurt 1964
 
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