Igor
Strawinsky - Der „Sacre“-Skandal 1913
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Unglaublicher Lärm erfüllte am 29. Mai 1913 das Théatre
des Champs-Elyses; es kam zu Handgreiflichkeiten, Ohrfeigen
und Beleidigungen. Jean Cocteau war Augenzeuge und berichtete später
über die Uraufführung des "Le Sacre du printemps" (das
Frühlingsopfer)
„Das Publikum spielte die ihm zugedachte Rolle, es empörte
sich sofort. Man lachte, spuckte, pfiff, ahmte Tierlaute nach. Der
Lärm degenerierte zum Handgemenge. Stehend in ihrer Loge, mit
verrutschtem Diadem, schwang die alte Gräfin de Pourtalès
ihren Fächer und schrie, ganz rot im Gesicht: "Das ist das
erste Mal seit sechzig Jahren, daß man es wagt, sich über
mich lustig zu machen."
Der "Sacre du Printemps" war revolutionär: halbnackte Tänzerinnen
und Tänzer spielten die heidnische Riten von Fruchtbarkeitstanz
bis zur Kopulation auf der Bühne, dazu erklang Strawinskys
Musik, die tonal und melodisch nicht mehr faßbar war, sondern
nur noch den Rhythmus betonte und mit Musik, wie man sie bislang
kannte, nicht mehr viel zu tun hatte.
(Hörbeispiel, "Sacre", 2. Satz "Danse des adolescentes" (Tanz
der Jünglinge)
Provokation war im damaligen Paris aber nichts Außergewöhnliches.
Man hatte zwar die Skulpturen Rodins und Camille Claudels gesehen,
man wußte auch, daß der Impresario des russischen Balletts,
Segeij Dhiaghilew, Revolutionär im küntlerischen Ballett
sein wollte, doch man konnte sich nicht vorstellen, daß das
Duo Strawinsky/Dhiaghilew nach dem "Feuervogel" so etwas Neues auf
die Bühne bringen würde.
Strawinsky hat in seinem „Frühlingsopfer" genau diesen
rituellen Prozess des Blutopfers beschrieben.:
"Als ich in Petersburg die letzten Seiten des Feuervogels niederschrieb,
überkam mich eines Tages die Vision einer großen heidnischen
Feier - alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz
eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um dem
Frühligsgott gnädig zu stimmen. Das war das Thema von
"Sacre du Printemps".
(Igor Strawinsky in seinen Erinnerungen)
"Als die Auserwählte erschöpft niedersinkt, ergreifen
sie die Ahnen und heben sie zum Himmel empor. Der Zyklus der Kräfte,
die wiedergeboren werden, um zu vergehen, um sich in der Natur aufzulösen,
ist erfüllt und in diesen wesenhaften Rhytmen vollendet."
(Strawinsky)
Ein Augen- und Ohrenzeuge aus der Uraufführung am 29. Mai
1913 :
„...Der junge Mann, der hinter mir in der Loge saß,
stand im Verlauf des Balletts auf, um besser zu sehen. Die
starke Erregung, die ihn gefangen hielt, äußerte sich
darin, dass er sogleich anfing, mit seinen Fäusten im Takt
auf meinen Kopf zu schlagen. Ich selbst war so außer mir,
dass ich die Schläge lange Zeit nicht spürte..."
Dieser Skandal begleitete Cocteaus künstlerische Laufbahn
lange und wurde für ihn zum Schlüsselerlebnis. Hatte er
beim "Sacre" noch im Publikum gesessen, so war er bei der nächsten
Produktion, am 18. Mai 1917, selbst bei der Uraufführung seines
Balletts "Parade" beteiligt, zu dem Picasso die Bühnenbilder
und Kostüme entwarf und Erik Satie die Musik komponierte.
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