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Kulturgeschichte - 20. Jahrhundert


   
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20. Jahrhundert  

Nationalsozialismus
Zeitzeugenbericht: Brigitte Langenbach
Brief Hedwig Langenbachs an die Tochter Brigitte  
Fortsetzung

 

Hedwig Langenbach Lünen
an der Lippe, dem 30.11.1944

Meine liebe Pitti, diesen Brief nimmt ein Unteroffizier aus Hans Dorrs Regiment mit, der heute hier war und Grüsse von seinem Kommandeur brachte. So hoffen wir, dass Du ihn schneller und sicherer bekommst. Gestern hat es uns nun erwischt, Du hast hoffentlich unsere Eilnachricht inzwischen bekommen. Unser schönes Haus ist nicht mehr bewohnbar, ist auch nicht mehr zu reparieren, alle drei Etagen liegen mit Schutt und Scherben zugedeckt. Von draussen sieht man in unser Schlafzimmer und durch den zersplitterten Kleiderschrank hindurch. Es war ein furchtbarer Angriff, wie wir ihn noch nicht erlebt haben. Ich war bei Gemmekes im Keller, es kam zu rasch, so dass ich nicht mehr nach Hause laufen konnte. Sonst ging ich bei den letzten Tagesangriffen immer nach Hause. Es war mal wieder ein Tag, an dem der Alarm schon morgens um halb sechs Uhr losging. da dachte ich, als ich zum Büro ging, heute wird's gut, den 29. November muss man sich merken, aber was er uns bringen sollte, ahnte ich doch nicht. Ich war mittags schon zu Hause gewesen, da gabs einen Grossangriff auf Hamm. Als der vorbei war, ging ich wieder zum Büro und als wir gerade anfingen zu arbeiten, ging der Zauber los. Es war der reinste Bombenhagel, ein Brechen, Heulen, Pfeifen, Klirren, der Boden unter den Füssen bebte. Die Frauen und Kinder im Keller jammerten und schrien und ich sass als einige ruhig und die anderen beruhigend darunter, immer mit dem Gedanken, es wird gut gehen, auch zu Hause, denn wir müssen uns doch alle nach dem Krieg gesund wieder zusammenfinden. Als wir aus dem Keller kamen, brannte Duschas Haus (direkt hinter uns) lichterloh. Alles lag voll Glasscherben. Bei Gremme begegnete mir Jochi, der sich nach mir umsehen wollte. Er bereitete mich schon etwas vor auf das Grauen, das mich in der Kappenbergerstrasse erwartete. Das Haus von Schulz ist nur noch ein Steinhaufen, der bis jetzt vergeblich nach der Leiche von Frl. Sch. durchsucht wird. Frau Schulz konnte man gestern abend noch bergen. Der Park ist zum grössten Teil wie abrasiert, ein Baum von ca. 40 cm Ø ist vor unser Haus geflogen und hat ein Loch in Runges Schlafzimmerwand gedrückt. Hartmanns Saal ist platt, die daran anschliessende Hauswand abgerissen und innen alles zerstört. Oma Hartmann brachten sie gerade ins Krankenhaus, als ich nach Hause kam. Sie ist heute gestorben, die anderen leben. Frau H. ist garnicht zu Hause, sie besucht Günther in Berlin. Quitmanns Kohlenlager hat auch einen Volltreffer abbekommen, der auch zum Teil das Lager von Langenkämper mitgenommen hat. Onkel Lutz Schuppen ist wie eine Ruine, unser Garten ist mit den Brettern übersät. Tante Hete hat in ihrer Wiese einen Volltreffer, sämtliche Obstbäume sind wie abrasiert, Freitags Haus, Albertz und Hohns baufällig. Tante Hetes Haus ist auch schwer beschädigt, Fenster, Türen und Decken usw. Sie kann aber drinbleiben. In der Reuterstrasse sind einige Häuser platt, eins hat gebrannt. Zeche Viktoria hat schwere Treffer, die ganze Kolonie rund um die Zeche ist schwer beschädigt, auch Westfalia ist kaputt. Man kann garnicht alles aufzählen, weiss auch vielleicht noch nicht alles. Coers Villa (Armin) ist auch nur noch halb, ebenso Heta.

Wir sollen ungefähr 3000 Obdachlose in Lünen sein (diesmal müssen wir 3 uns ja auch dazuzählen). Bis heute spricht man von 50 Toten, dazu gehören auch Ruth Jendrich und ihre Mutter, auch ihr Kind, ferner Hilde Krummes Eltern und Bruder. Frau Weigel liegt im Krankenhaus, sie wollte während des Angriffs die eiserne Ausstiegsklappe öffnen im Luftschutzkeller, da flog sie ihr vor <den> Körper. Man weiss noch nicht, welcher Art die Verletzung ist.

Wir wohnen nun bei Lutzens und holen so nach und nach die notwendigen Sachen her. Die Möbel und Möbelreste bringen wir zu Frau Hüning in die Werkstatt. Du schreibst, dass Du hoffst, in Urlaub zu kommen. Nun habt Ihr vorläufig kein Zuhause mehr, d.h. im Sinn des Wortes nicht. Sonst rücken wir eben zusammen, wenn Ihr kommt. Nur im Augenblick sehen wir nicht gern, dass Ihr reist, denn das ist heute ebenso lebensgefährlich, als wenn hier mit Bomben geschmissen wird. Wenns von <dem> Augenblick auch weh tut, wir verlieren die Nerven nicht und auch nicht den Glauben an den Sieg. Denkt auch Ihr daran, dass Ihr gestern nichts weiter verloren habt als einen Steinhaufen und Werte, die später zu ersetzen sind. Es war mir wie ein Symbol, dass das Bild von Euch dreien wohl auf dem Boden lag, aber gänzlich unbeschädigt, nicht mal das Glas kaputt. So hoffe ich weiter, bald muss die Wendung kommen, und dann wird alles gut.

Herzliche Grüsse von uns dreien, auch von Lutzens allen

Deine Mutter, Vater u. Jochi

 

Ergänzung

Im Original schrieb Hedwig Langenbach auf Papier mit dem Briefkopf Ludwig Langenbach, weil sie seit Tage der Lüner Bombardierung bei dem Bruder ihres Mannes Paul einzogen und dort ungefähr ein Vierteljahr lebten. (MS)