Waldemar Bonsels: Die Biene Maja (Textausschnitt)

7. Kapitel

Majas Gefangenschaft bei der Spinne

 
Es war schon Nachmittag geworden, und die Sonne stand hinter den Obstbäumen eines großen Gemüsegartens, den Maja durchflog. Die Bäume waren längst verblüht, aber die kleine Maja entsann sich noch gut, sie alle in ihrem leuchtenden Glanz von unzähligen Blütengesehen zu haben, die sich heller als das Licht und betörend rein und lieblich gegen den blauen Himmel emporgehoben hatten. Der süße Duft und der lichte Schimmer hatten sie zu einer Seligkeit berauscht, die sie in ihrem Leben niemals vergessen wollte. Sie dachte nun im Dahinfliegen darüber nach, daß das alles wiederkommen sollte, und ihr Herz wurde weit vor Glück über die Herrlichkeit der großen Erde, auf der sie leben durfte.
 
Am Ende des Gartens schimmerten die weißen Sternenbüschel des Jasmin mit ihren zarten gelben Angesichtern, mitten im Strahlenglanz von reinem Weiß. Der sanfte Wind trug ihr den süßen Duft entgegen. Und gab es nicht noch Linden, die in dieser Jahreszeit in voller Blüte standen? Und Maja dachte beglückt an die großen ernsten Linden, in deren Wipfel bis zuletzt das rötliche Glühen der Abendsonne stand.
 
Sie flog zwischen Brombeerranken hindurch, die schon grüne Beeren angesetzt hatten, aber auch noch Blüten trugen. Als sie wieder empor wollte, um zum Jasmin zu gelangen, legte sich plötzlich etwas Fremdartiges über ihre Stirn und über ihre Schultern, ebenso rasch bedeckte es die Flügel, so daß sie wie gelähmt wurden und Maja in dem seltsamen Wunder dieser fremdartigen Erscheinung das Bewußtsein hatte, plötzlich in ihrem Flug gehemmt zu sei, und das Gefühl, zu fallen, kraftlos nieder zufallen, als hielte eine heimliche, böse Gewalt ihre Fühler, ihre Beine und ihre Flügel in unsichtbare Gefangenschaft. Aber sie fiel nicht. Obgleich sie ihre Flügel nicht mehr bewegen konnte, schwebte sie doch, wunderbar weich und zart und nachgiebig hielt es sie, hob sie ein wenig, senkte sich wieder und trieb sie hin und her, als spielte ein sanfter Wind mit einem gelösten Blatt.
 
Die kleine Biene überkam ein Gefühl von Beängstigung, aber recht fürchten konnte sie sich nicht, da sie weder Schmerzen empfand noch eigentlich ein Unbehagen verspürte. Nur seltsam war es, ganz seltsam und dahinter lauerte etwas Böses. Sie wollte doch sehen, daß sie weiterkam. Wenn sie sich recht anstrengte, so würde es ihr sicher gelingen.
 
Da sah sie quer über ihrer Brust einen unendlich feinen, dehnbaren Silberfaden, und als sie rasch und in heißem Schreck danach griff, blieb er an ihrer Hand hängen, klebte fest und ließ sich nicht mehr lösen. Und dort lief ein zweiter Silberfaden über ihre Schulter, zog sich über die Flügel hin und verband sie miteinander, so daß sie sich nicht mehr heben konnte. Und dort und dort, überall in der Luft und über ihren Körper hin liefen diese hellen, glitzernden Fäden.