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Literatur - Jugendliteratur - Klassiker


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Erstes Buch:
Der alte Seebär

 

Kapitel I
Der alte Seebär im »Admiral Benbow« 

Kapitel II
Der Schwarze Hund taucht auf und verschwindet 

Kapitel III
Der schwarze Fleck 

Kapitel IV
Die Seemannskiste
 

Kapitel V
Das Ende des Blinden

Kapitel VI
Die Papiere des Käpt'ns

Robert L. Stevenson: Die Schatzinsel (Treasure Island)
übersetzt von Martin Schlu, Mai 2008

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Kapitel IV
Die Seemannskiste
Natürlich verlor ich keine Zeit, meiner Mutter alles zu erzählen, was ich wußte, und das hätte ich vielleicht schon viel früher tun sollen, denn wir sahen uns nun unversehens in einer schwierigen und gefährlichen Situation. Etwas von dem Geld des Käpt'n - wenn er welches hatte - gehörte zweifellos uns, aber es war wohl sicher, daß seine alte Mannschaft, vor allem die zwei Spezis, der Schwarze Hund und der blinde Bettler, sich nicht verpflichtet fühlten, aus ihrer Beute die Schulden des toten Käpt'n bei uns zu bezahlen. Der Befehl des Käpt'n sofort aufzubrechen und zu Doktor Livesey zu reiten, hätte bedeutet, meine Mutter alleine und unbeschützt zu lassen und daran war nicht zu denken. Zweifellos erschien es unmöglich für jeden von uns, noch länger im Haus zu bleiben, schon das Zusammenfallen der Kohlen im Kamin und das unüberhörbare Ticken der Uhr erfüllte uns mit Angst. Trotz der Nachbarschaft in Hörweite schien die Luft erfüllt von sich nähernden Schritten und während auf der einen Seite die Leiche des Käpt'n im Gastraum lag, war auf der anderen Seite der furchtbare Blinde zu vermuten, der so nah war, daß er jederzeit wiederkommen konnte - das waren Augenblicke, in denen mir die "Haare zu Berge standen", wie man sagt.
 
Irgendwie mußte die Situation gelöst werden, und es glückte uns im letzten Augenblick fortzugehen und zu versuchen, in der benachbarten Siedlung um Hilfe zu bitten. Gesagt, getan - barhäuptig, wie wir waren, flohen wir sofort in den einbrechenden Abend und den frostigen Nebel.
 
Die Siedlung lag zwar nur wenige hundert Meter entfernt, doch man konnte sie nicht sehen, weil sie auf der anderen Seite der nächsten Bucht lag, und, was mich entsetzte, war, daß genau aus dieser Richtung der Blinde am Nachmittag gekommen war und vielleicht wieder herkommen würde. Wir waren nicht viele Minuten unterwegs, doch wir hielten ab und zu an und horchten auf Geräusche und innere Eingebungen. Aber es gab nichts Unübliches außer dem tiefen Rauschen der schwachen Wellen und den Geräuschen des Waldes.
 
 
Es waren schon Kerzen angezündet, als wir die Siedlung erreichten, und und ich werde niemals vergessen, wie sehr ich erleichtert war, den gelben Lichtschein in Türen und Fenstern zu sehen und die Gewißheit zu haben, bald in diesen Häusern unterzukommen. Doch keine Menschenseele erklärte sich bereit, mit uns zum "Admiral Benbow" zurückzukehren - es sah aus, als ob sich einige Männer für ihre Angst schämten. Je mehr wir von unseren Ängsten erzählten, desto schneller gingen sie wieder in ihre Häuser zurück, Männer, Frauen und Kinder. Der Name "Käpt'n Flint" war dort zu bekannt und enthielt eine Menge Angst und Schrecken. Einige der Männer hatten auf den Feldern weit draußen vor dem "Admiral Benbow" gearbeitet und erinnerten sich, mehrere Fremde auf der Straße gesehen zu haben und hatten sie für Schmuggler gehalten, weil sie wegliefen und einer hatte an einer Stelle einen Lugger (kleines Schiff) gesehen, an der Stelle, die wir "Kitts Loch" nennen.
 
Aus diesem Grunde hatte nun jeder vor den Kumpanen des Käptn's erst recht Todesangst. Je mehr wir berichtetem, desto weniger Leute brachten den Mut auf uns zu helfen, nur einige erklärten sich bereit zu Dr. Livesey zu reiten, dessen Haus in entgegengesetzter Richtung lag - mit uns zum Gasthaus zurückzulaufen und es verteidigen wollte keiner. Man sagt, Angst sei ansteckend. Andererseits wächst man durch Angst auch über sich hinaus und als jeder seine Gründe genannt hatte, warum er uns nicht helfen könne, sagte meine Mutter ein paar Worte. Sie erklärte, sie würde sich niemals Geld abnehmen lassen, das ihrem vaterlosen Jungen zustände. "Wenn es auch keiner von Euch wagt, Jim und ich wagen es. Wir werden den Weg zurückgehen, den wir gekommen sind und verachten euch große, dumme und hühnerherzigen Männer. Wir werden diese Kiste öffnen, selbst wenn wir dabei sterben. Und Euch, Mrs. Crossley, danke ich für dieTasche, in der wir unser rechtlich erworbenes Geld tragen werden!"
 
Natürlich sagte ich, ich würde mit meiner Mutter gehen und natürlich schimpften uns alle Narren und nicht ein Mann wollte mit uns gehen. Alles, was sie für uns taten, war, daß sie mir eine geladenen Pistole überließen, falls wir angegriffen würden und daß sie versprachen, gesattelte Pferde bereit zu halten, falls wir doch noch zurückkehren würden, während ein Junge schon losgeritten war, um den Doktor zu suchen und ihn um bewaffnete Unterstützung zu bitten.
 
Mein Herz schlug bis zum Halse, als wir uns beide in die kalte Nacht und das gefährliche Abenteuer begaben. Der Vollmond war aufgegangen und färbte die Umrisse im Nebel rötlich und dies beschleunigte unsere Schritte, denn bevor wir gegangen waren, war es klar, daß es bald taghell sein und unsere Ankunft dann von vielen Augen beobachtet würde. Wir schlichen lautlos und heimlich durch das Gebüsch, sahen und hörten aber nichts, was uns bedrohte, bis wir die Tür des "Admiral Benbow" hinter uns geschlossen hatten. Ich tastete mich sofort zur Bar und wir standen und keuchten einen Augenblick im Dunkeln, allein mit dem toten Käpt'n im Haus. Dann holte meine Mutter eine Kerze aus der Bar und wir näherten uns dem Gastraum, während wir uns an der Hand hielten. Der Käpt'n lag so, wie wir ihn verlassen hatten, auf dem Rücken, die Augen offen und einen Arm ausgestreckt.
 
"Zieh die Vorhänge zu", flüsterte meine Mutter, "sie könnten kommen und uns von außern beobachten. Und nun", sagte sie, als ich dies erledigt hatte, "müssen wir dem da den Schlüssel abnehmen und ich glaube, ich weiß, wer das erledigen muß", und eine Art Seufzer entfuhr ihr, als sie dies sagte.
 
Ich kniete mich sofort hin. Auf dem Boden, nahe seiner Hand, lag ein kleines rundes Papier, das auf der einen Seite geschwärzt war. Ich hatte keinen Zweifel daran, daß dies der "Schwarze Fleck" war und hob ihn auf. Auf der Rückseite las ich in einer sehr guten und klaren Handschrift die Worte: "Du hast Zeit bis zehn Uhr."
 
"Nun, Jim," sagte meine Mutter, "der Schlüssel."
 
Ich fühlte in seinen Taschen, einer nach der anderen. Ein paar Münzen, eine Schraube und einige Gewinde, ein paar große Nadeln, ein Strang abgebissener Kautabak, sein Messer mit gebogenem Griff, ein Taschenkompaß und eine Zunderbüchse, das war alles, was ich fand und ich begann zu verzweifeln.
 
"Vielleicht hat er es um seinen Hals," vermutete meine Mutter.
 
Mich überkam eine starke Abscheu, doch ich zerriß heftig sein Hemd am Hals und da, sicher genug aufbewahrt, hing da etwas an einem geteerten Faden, den ich mit seinem eigenen Messer durchschnitt - wir hatten den Schlüssel gefunden. Nach diesem Triumph schöpften wir wieder Hoffnung und rannten sofort die Treppe nach oben zu der Kammer, in der er so lange gewohnt hatte und in der seine Seekiste seit seiner Ankunft gestanden hatte. Sie sah aus wie alle anderen Seemanskisten aussahen, die Initiale "B" war auf der Oberseite mit einem Eisen eingebrannt und die Ecken waren durch einen langen und oft rauhen Gebrauch abgestoßen und angebrochen.
 
"Gib mir den Schlüssel," sagte meine Mutter, und obwohl das Schloß sehr schwergängig war, hatte sie es aufbekommen und schlug den Deckel auf, daß er zitterte. Ein starker Dunst aus Tabak und Teer schlug uns aus dem Inneren entgegen, doch man sah ganz oben in der Kiste nichts außer einigen sehr guten Kleidungsstücken, sorgfältig gebürstet und zusammengelegt. Wie meine Mutter sagte, waren sie nie getragen worden.
 
Unter ihnen lag ein sonderbares Gemisch aus einer Windrose, einer Zinnbüchse, einigen Tabakrollen, einem Paar Duellpistolen, einem Silberbarren, einer alten spanische Uhr und etwas Schmuck von geringem Wert - vielleicht aus der Fremde mitgebracht - es gab ein Paar Kompasse mit Messing beschlagen und fünf oder sechs merkwürdige Muscheln - vielleicht aus Westindien. Ich habe mich immer gefragt, warum er diese Muscheln sein unstetes, schuldiges und gejagtes Leben durch mit sich führte.
 
In der Zwischenzeit hatten wir nichts von irgendwelchem Wert gefunden - außer dem Silber und dem Schmuck - und selbst damit konnten wir nichts anfangen. Ganz unten lag ein alter Seemansmantel, der mit dem Meersalz vieler Hafenkneipen getränkt war. Ungeduldig hob ihn meine Mutter hoch und da lagen die letzten Dinge in der Kiste vor uns: ein in Ölpapier eingewickeltes Bündel, das nach Papieren aussah und eine Tasche aus Segeltuch, in der es nach Gold klimperte.
 
"Ich werde diesen Gaunern zeigen, daß ich eine ehrliche Frau bin", sagte meine Mutter. "Ich will meine Rechnung bezahlt haben und nicht einen Farthing mehr. Halte Mrs. Crossleys Tasche hoch!" Und damit begann sie die Münzen zu zählen und sie danach in die Tasche zu legen, die ich hochhielt.
 
Es war ein langes, schwieriges Geschäft, denn die Münzen kamen aus allen möglichen Ländern und hatten alle nur vorstellbaren Größen: spanische Dublonen, französische Louisdors und Guineen in Achter-Werten und ich weiß nicht, was noch - alle in dem Säckchen zusammengeschüttet. Von den Guineen gab es am wenigsten und diese konnte nur meine Mutter zusammenrechnen.
 
Als wir halb fertig waren, faßte ich sie beim Arm, denn ich hatte in der stillen, frostigen Luft ein Geräusch gehört, daß ich dachte, mein Herzklopfen wäre laut zu hören - das Tap Tap des Blindenstocks auf der gefrorenen Straße. Es kam näher und näher, während wir die Luft anhielten und nicht zu atmen wagten. Dann schlug der Stock gegen die Tür des Gasthauses und wir konnten hören, wie die Klinke gedrückt wurde und die Bolzen knirschten, als man versuchte, die Tür zu öffnen und dann war lange Zeit Stille - drinnen und draußen. Zuletzt fing das Tap Tap wieder an und, zu unserer unbeschreiblichen Freude und Erleichterung, nahm es ab, wurde schwächer und verlor sich endlich in der Ferne.
 
"Mutter," sagte ich, "nimm alles und laß uns gehen," denn ich war sicher, daß die verschlossene Tür verdächtig erscheinen mußte und bald ein ganzer Schwarm Piraten zu hören sein würde - wie Hornissen. Obwohl ich überaus froh war, daß die Tür abgeschlossen gewesen war, konnte ich keinem erzählen, wie ich den schrecklichen blinden Mann zuerst getroffen getroffen hatte.
 
Aber obwohl meine Mutter, erschrocken war, konnte sie nicht zustimmen, denn sie hatte noch nicht ihre Summe zusammen und es war nicht daran zu denken, mit weniger zu gehen, als ihr zustand. Es war noch nicht sieben, wie sie sagte, es sei ein langer Weg, sie kenne ihre Rechte und würde sie auch durchsetzen und sie argumentierte immer weiter, bis ein hoher Pfeifton gut von den Hügeln oberhalb zu hören war. Das war genug, mehr als genug für uns.
 
"Ich werde nehmen, was ich habe", sagte sie und sprang auf.
 
"Und ich nehme das und zähle es als Restsumme", sagte ich und nahm das in Ölpapier verpackte Päckchen.
 
Im nächsten Moment tasteten wir uns die Treppe hinunter, ließen die Kerze bei der leeren Kiste, waren schon durch die geöffnete Tür draußen und auf dem Rückzug. Wir waren keinen Augenblick zu früh geflüchtet. Der Nebel löste sich schnell auf, schon schien der Mond hell und erleuchtete die Umgebung ringsum und nur auf der Hügelspitze verblieb noch ein kleiner Nebelschleier und verbag die ersten Schritte unserer Flucht.
 
Nach weniger als der Hälfte des Weges zum Nachbardorf, kurz hinter der Hügelspitzem mußten wir durch das helle Mondlicht. Doch es war nicht nur das, was uns ängstigte, sondern auch die Geräusche von Stiefeln mehrerer Männer, die wir allmählich herankommen hörten, und als wir in ihre Richtung schauten, warf ein Licht aus einer Laterne, die einer der Männer hielt, lange Schatten und flackerte hin und her und es kam schnell näher.
 
"Mein Lieber," sagte meine Mutter plötzlich, "nimm das Geld und lauf. Ich fühle mich zu schwach."
 
Das war wohl unser Ende, dachte ich, verfluchte die Feigheit unserer Nachbarn und bekam einen Haß auf meine Mutter, sowohl auf ihre Ehrlichkeit als auch auf ihre Habsucht, auf ihre Blödheit kurz vorher und ihre augenblickliche Schwäche. Wir waren gerade an einer kleinen Brücke - ein Wink des Himmels - und ich half ihr, zitterig, wie sie war, bis zum Ende des Ufers unter der Brücke, wo sie sicher genug war - sie seufzte und fiel gegen meine Schulter. Ich weiß nicht mehr, wie ich die Kraft fand, dies alles zu tun und ich habe auch Angst, daß ich sie roh angefaßt habe, aber ich schaffte es, sie unter die Brücke an den Uferrand zu ziehen, eng unter dem Brückenbogen. Weiter konnte ich sie nicht mehr bewegen, weil die Brücke auch für mich zu niedrig wurde um mich auch noch zu verstecken. So blieben wir, wie wir waren - meine Mutter völlig erschöpft und ausgelaugt und wir beide in Hörweite des Gasthauses.
 
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Foto: © Martin Schlu 2008