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Kulturgeschichte - 20. Jahrhundert


Biographie

kurzer Exkurs

Danzig und Polen

Die Blechtrommel
Unkenrufe
Im Krebsgang

Ein weites Feld

Grass und die anderen

Günter Grass (geb. 1927)
Beim Häuten der Zwiebel
von Martin Schlu 19.8. 2006

 

 

Im Vorfeld der Erscheinens des neuen Romans von Günter Grass wurde bereits viel geschrieben, den Anstoß gab die Meldung der "Frankfurter Allgemeinen", als ob Grass ihr exklusiv die Meldung der SS-Mitgliedschaft gegeben habe - dabei hat der Rezensent offenbar nur genauer gelesen als viele andere. Mit meinem Deutschkurs ist in der Vergangenheit bereits Grass gelesen, gehört und gesehen worden, so daß die Medienwelle nicht ganz unvorbereitet kommt. Vorgestern, am Donnerstag wird das Interview zwischen Ulrich Wickert und Günter Grass gesendet, aus dem Roman vorgelesen und glücklicherweise gibt es am Freitag noch einige Exemplare der Erstausgabe, von denen eins den ganzen Nachmittag, Abend und heute früh in meinen Händen war und nun - endlich - ausgelesen ist. Worum geht es im neuen Grass?
 
Die "Zwiebel" ist Günter Grass' prämortales Vermächtnis an meine Generation (1958), unsere mittlerweile mehr oder weniger pubertierenden Kinder und unsere Eltern, die im Prinzip alles Geschriebene bestätigen können. Beim Lesen kommen Erinnerungen hoch, Gehörtes aus Kindertagen, Unausgesprochenes der Eltern, der Mutter, die beim BDM war, weil sie beim RAD (Arbeitsdienst) Medizin studieren wollte, ihr Vater, der natürlich in der Partei war, aber nie darüber sprechen wollte oder konnte wie meiner auch - ich finde unglaubliche Parallelen zwischen Gelesenem, Gehörtem, Erzähltem und Geschriebenen und nach der Lektüre des Buches ist Grass wieder einmal die weitere Vaterfigur, die er schon war, als ich selbst pubertierte, die Geschichten um Oskar, Marie, Joachim Mahlke und Tulla verschlang und dabei von Grass Dinge las, die ich meinem Vater nie erzählt hätte, weil man über Sexualität nicht mit ihm reden konnte. Natürlich war klar, daß die Danziger Trilogie Autobiographie war, wie genau, war aber nicht wichtig, weil es auf soviele reale Menschen übertragbar war.
 
Grass beginnt sein Buch mit dem Angriff auf die Danziger Westerplatte, der seine Kindheit beendet, gräbt aus seiner Kindheit Fräulein Spollenhauer aus (siehe "Blechtrommel"), vergleicht seine Erinnerung mit einer Zwiebel, die Schicht um Schicht abgetragen wird, ohne alles freizugeben. Er beschreibt das Sammeln von Bildchen, das Tauschen, die Sammelbeendigung als Folge des Krieges, wie es Millionen Zehnjährige erlebt haben dürften (bei mir selbst war es nicht der Krieg, sondern ein Umzug, der das Sammeln beendete) wenn auch durch das Bildersammeln die Beschäftigung mit Kunst erwachte, die sein Leben lang andauerte und der andere Teil des Grass'schen Œuvre ist. Interessant ist das Springen aus der Kindheit in die "später"-Welt hin und her, das eine erklärend, das andere folgernd, ein Wechselbad aus Deja Vu und chronologischem Fortgang. Mehr oder weniger rutscht er - wie auch meine Eltern - in die NS-Maschine: Pimpfe und HJ, er erlebt als Elfjähriger die brennenden Synagogen und denkt sich natürlich nichts dabei. Ich wäre vermutlich auch ein Nazi geworden, so bin ich glücklicherweise eher ein Kind der 60er und 70er Jahre.
 
Grass kommt in der Kriegszeit zum Lesen, entdeckt den Bücherschrank der belesenen Mutter und versinkt in den Heldentaten der Altvorderen. Später träumt er von den gelesenen Abenteuern, will etwas Tolles machen, was sich keiner traut: U-Boot-Kommandant oder Panzerfahrer - wie Jungen wie ich um 1970 eben Rockstar werden wollten. Hier wird es erklärlich, Grass ist zu jung, aber er wird gezogen, weiterverschickt, landet irgendwann bei der SS, begreift die "doppelten Runen" erst, als ihm der "Obergefreite" in den letzten Kriegstagen eine andere Jacke besorgt. Es geschieht in dem Chaos der letzten Monate und Wochen, Zeit zum Nachdenken bleibt nicht, weil die Ereignisse den Menschen überollen. Ich kann das Erlesene und Freigelegte nachempfinden (s.o.). In unserer Familie wurde - als ich pubertierte - das "Hitler-Thema" ebenso totgeschwiegen und von den Siebziger Jahren bis zur Wiedervereinigung konnte man nicht Verständnis für die Entwicklung zum Nazi haben, wenn man nicht bei den Gutmenschen unten durch sein wollte. Verdrängung war en vogue und ein Adenauer, Kiesinger oder Filbinger waren wahre Meister darin. Es erscheint mir heute darum menschlich und erklärlich, geschwiegen zu haben, unmenschlich finde ich eher die Hexenjagd auf die, die sich nicht trauten, sich zu offenbaren.
Im Krieg beschreibt Grass den täglichen Wahnsinn: Menschen, die er eben noch gesprochen hat, sind auf einmal tot, eine Episode zeigt sehr anschaulich, wie er durch das Singen von "Hänschen Klein" entdeckt, daß die vermeintliche Bedrohung hinter den russischen Linien kein feindlicher Russe sondern ein deutscher Soldat ist. Er überlebt - zufällig , wie er meint - und versucht sein Leben in Ordnung zu bringen.
 
Nun folgen die Lagerzeit, die Gespräche mit Joseph, der immer wieder zitiert wird - ein bayrischer Katholik, der Bischof wird - und in der Kirche Karriere machen will. Auch wenn Papst Benedikt (vormals Joseph Ratzinger) die Episode noch nicht bestätigt hat, scheint es wahr und glaubwürdig zu sein. Im Krieg passierten wohl noch ganz andere Dinge, wenn man meiner Vätergeneration glaubt. Lückenlos rutscht Grass in weitere Situationen hinein, statt Kunststudium (es sind keine Kohlen da und der 46/47er Winter ist definitiv kalt) macht er eine Steinmetzlehre, übernimmt Gelegenheitsjobs, erfährt erste und weitere Lieben, schreibt Gelegenheitsgedichte, Veröffentlichungen, bekommt eine Einladung der Gruppe 47 und auch einen ersten Preis. Er erhält die ersten Verlagsangebote, eine Gelegenheit nach der anderen wird genutzt und besonders dieser Abschnitt der Autobiographie macht Mut für die heutige Jugend, die "Generation Praktikum", die ihren Weg erst noch finden muß. Das Schlüsselerlebnis wird sein Hochzeitsgeschenk, eine Schreibmaschine, auf der kommende Werke entstehen werden.
 
Die letzten Abschnitte hören auf, als meine Generation geboren wird. Der Tod Brechts wird erwähnt, das Wiedersehen mit dem - noch - zerstörten Danzig und der kaschubischen Großmutter Anna und der Anstoß zu den ersten Blechtrommelzeilen in Paris. Gegen Ende dieses Abschnittes läuft das Leben halbwegs geregelt und über Grass' Familienleben erfährt der Leser nichts, was die Privatsphäre der Familie verletzen würde.
 
Mit dem Erscheinen der "Blechtrommel" 1959 endet Grass und damit hat er die Lücke geschlossen, die bis in die Fünfziger Jahre bestand und über die meine Elterngeneration nicht reden wollte und reden konnte.
 
Darum danke ich ihm für dieses Buch.